Die Würde des Menschen ist unantastbar


Konferenz „Antisemitismus in Europa heute“ der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung
Berlin, 17. Juni 2009
Eröffnungsvortrag von Petra Pau

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1. Eine Geschichte zu Beginn, es ist keine gute. Im Januar 2007 wurde in Berlin ein jüdischer Kindergarten von Nazis besudelt. Es gab Hetzschriften an der Hauswand. Und auf dem Spielzeug der Kinder standen SS-Runen. Ich war entsetzt und hilflos. Anno 2007 SS-Runen auf dem Spielzeug jüdischer Kinder.

Diese Geschichte hatte ich Monate später auf einer Konferenz gegen Antisemitismus erzählt. Das brachte mir überraschend einen negativen Zeitungs-Kommentar ein. Sinngemäß: Petra Pau kapituliert. Typisch für die Politik. Anstatt endlich etwas zu tun, weint sie lediglich Krokodils-Tränen.

Ich war wirklich hilflos. Ich war es auch, als ich wenig später diesen jüdischen Kindergarten besuchte. Es war eine solidarische und fröhliche Begegnung. Umso mehr frage ich mich noch heute, wie der Zeitungs-Kommentator 3-jährigen Kindern erklären will, was SS-Runen auf ihrem Spielzeug bedeuten?

Kurzum: Ein forscher Kommentar ist flugs geschrieben. Das wahre Leben ist komplizierter und komplexer, auch beim Thema Antisemitismus. Ich darf ihr mehrtägiges Seminar eröffnen. Dafür danke ich. Ich nutze das Angebot gerne, auch um Zweifel zu streuen. Denn jeder Zweifel ist klüger als Gewissheiten.

I. Antisemitismus scheint unausrottbar

2. Seit elf Jahren bin ich Mitglied im Deutschen Bundestag. Das weite Feld, das ich dort, aber auch außerparlamentarisch beackere, ist die Innenpolitik. Meine Pro-Themen heißen BürgerInnenrechte und Demokratie. Meine Anti-Themen sind Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.

Bei der genannten Anti-Triade hat es in den letzten Jahren bei mir eine Gewichtsverschiebung gegeben. Lange Zeit hatte ich den Antisemitismus als eine Art Unterabteilung von Rechtsextremismus und Rassismus behandelt. Das ist heute nicht mehr so. Es gibt zwar Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede.

Richtig ist: Rechtsextremismus ist eine stete Quelle für antisemitische Einstellungen. Aber er ist nicht die einzige. Hinzu kommt: Antisemitische Auffassungen sind in allen politischen Lagern und in allen gesellschaftlichen Schichten präsent. Das belegen einschlägige Studien.

3. Vorerst möchte ich Sie mit einer anderen Eingangs-These provozieren. Nämlich mit der Behauptung, dass der Antisemitismus unausrottbar ist. Dafür sprechen zumindest drei Beobachtungen. Zum einen ist Antisemitismus eine Jahrtausend alte Pandemie, nahezu weltweit anzutreffen und höchst resistent.

Zum zweiten beruhen alle Formen und Prägungen des Antisemitismus auf Vorurteilen. Seine Basis ist irrational. Über solche Phänomene hatte der berühmte Albert Einstein einmal zutreffend gesagt: „Es ist leichter, ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil.“ Antisemitismus ist demnach schwer zu packen.

Und drittens: Antisemitismus, übersetzt mit Juden-Hass, bedarf keiner Jüdinnen und Juden. Er grassiert selbst dort, wo gar keine leben. Antisemitismus ist folglich zeitlos und bedingungslos. Er speist sich nicht aus realen Erfahrungen, sondern aus Mythen, die überliefert und angereichert werden.

Entsprechende Klischees kennen Sie alle: Der Jude sei verschlagen, raffgierig, machtgeil, intelligent, intrigant und so weiter. Denken sie nur an die Anschläge vom 11. 09. 2001 in den USA. Sofort kamen Theorien in Umlauf, die hinter den Attentaten eine welt-weite jüdische Verschwörung ausmachten.

Oder nehmen wir die aktuelle Finanz-Krise. Prompt war über den deutschen Banker Bernd Knobloch im Web zu lesen: „Vater von Bernd Knobloch ist der Kaufmann Samuel Knobloch. Seine Mutter ist Charlotte Knobloch, die als Präsidentin des Zentralrats der Juden im Licht der Öffentlichkeit steht.“

Auch das ist offenbar ein Versuch, die Weltfinanzkrise mit einer gefährlichen Weltjudenmacht zu erklären. Ein typisch antisemitistisches Klischee. Es ist immer auch präsent, wenn von einer jüdischen Finanz-Oligarchie an der US-Ost-Küste die Rede ist, die angeblich die Welt im Würgegriff halte.

II. Antisemitismus ist Judenhass

4. Im gesellschaftlichen Kontext sind stereotype Vorurteile gegenüber Personen oder Gruppen nichts Beiläufiges. Im Minimum führen sie dazu, den eigenen Status aufzuwerten und den Status anderer abzuwerten. Im Extremfall münden sie in Verbrechen gegen die Menschheit. Ich verweise auf den Holocaust.

Die Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden wurden in der NS-Zeit bis zum Exzess gesteigert. Sie galten als minderwertig und genau deshalb als Gefahr für den Bestand der nordischen Rasse. Also wurden Jüdinnen und Juden erst gebrandmarkt und schließlich verbrannt. Das alles mit deutscher Gründlichkeit.

Schon deshalb gibt es keinen Grund, vor derartigen Vorurteilen zu kapitulieren, so zäh sie auch sind. Im Gegenteil. Ähnliches wirkt genauso hartnäckig gegenüber Sinti und Roma, aktuell z. B. in Ungarn. Die Euthanasie-Praxis der Nazis wurde so gerechtfertigt, ebenso die langjährige Apartheid-Politik in Südafrika.

Dort, wo sich stereotype Vorurteile über Menschengruppen auswachsen, wo die einen sich höherwertig dünken und zugleich andere als minderwertig erniedrigen, überall dort droht eine alte Prophezeiung von Heinrich Heine wahr zu werden: „Erst verbrennt man Bücher und letztlich Menschen.“

5. Nun habe ich eingangs recht forsch definiert. Ich habe „Antisemitismus“ mit „Judenhass“ übersetzt. Wissenschaftler mögen mir das nachsehen. Allerdings gibt es weder in der Forschung, noch in der Politik eine allgemein akzeptierte Definition für den Begriff „Antisemitismus“.

Gemessen an der Jahrtausende währenden Geschichte der Verfolgung von Jüdinnen und Juden ist er ohnehin jüngeren Datums. Geprägt wurde der Begriff „Antisemitismus“ 1879. Seither wurden Jüdinnen und Juden zunehmend als Volk, Nation oder Rasse beschrieben. Das Vorurteil wurde erneut zum Vorsatz.

Sachlich ist der Begriff „Antisemitismus“ übrigens falsch. Denn er beschreibt ein indogermanisches Kontra gegen semitische Sprachfamilien und dazu gehörten nicht nur Jüdinnen und Juden. Aber der Begriff hat sich allgemein eingebürgert. Also werde ich mich nicht semantisch verkämpfen.

Umso mehr wäre zu klären, was man unter „Antisemitismus“ verstehen will. Das hat der Deutsche Bundestag im November 2008 getan. Nicht, weil die Politik besser weiß, was in der Wissenschaft zu Recht umstritten ist. Sondern um sich eine fraktionsübergreifende Diskussionsgrundlage zu schaffen.

Der Bundestag hat die Arbeits-Definition der OSZE, also der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, übernommen. Allein dass sich die OSZE seit Jahren überhaupt mit dieser Problematik befasst, kann belegen: Antisemitismus ist ein europa-weites und ein sehr ernst zu nehmendes Problem.

Die OSZE-Definition lautet verkürzt:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die man als Judenhass bezeichnen kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus sind gegen jüdische Individuen, (...) gegen Institutionen der jüdischen Gemeinden und gegen religiöse Einrichtungen gerichtet.“

Andere definieren: „Antisemitismus ist ein dauerhafter latenter Komplex feinseliger Überzeugungen gegenüber Juden als Kollektiv, (...) die darauf zielen, sich von Juden als Juden zu distanzieren, sie zu vertreiben oder zu vernichten.“ (siehe: Helen Fein, amerikanische Historikerin)

Entscheidend ist: Jüdinnen und Juden werden aus einem einzigen Grund angefeindet. Weil sie Juden sind. Kein Engländer, kein Inder, kein Amerikaner wird verurteilt, nur weil er Engländer, Inder oder Amerikaner ist. Anders beim „Antisemitismus“: Er beschreibt also ein pauschales kollektives Feindbild.

6. Natürlich will so ein immer währender, globaler Generalverdacht genährt werden. Dafür wurden und werden verschiedene Erklärungen bemüht. In der Fachliteratur finden sich unterschiedliche Muster. Sie wechseln oder ergänzen sich. Ich will hier sechs Quellen umreißen.

III. Quellen für Antisemitismus

Erstens: die religiöse Judenfeindschaft
Sie war bereits ein fester Bestandteil im frühen Christentum. Juden galten als blind und verstockt, weil sie Jesus nicht als Messias ansehen wollten. Der biblische Verrat an Jesu wurde den Juden angelastet. Dasselbe geschah bei unerklärlichen Bedrohungen, etwa als die Pest im Mittelalter wütete. Juden galten als Aussätzige. Vertreibungen von Juden und Pogrome gegen Juden folgten. Stereotypen, die daher stammen, sind zum Beispiel: Juden seien abweichlerisch und verräterisch.

Zweitens: die soziale Judenfeindschaft
Schon im Mittelalter wurden Juden zahlreiche Rechte versagt. Etliche Berufe oder Zünfte blieben ihnen verwehrt. Sie durften weder Grundbesitz haben, noch in Diensten des Staates tätig sein. Sie wichen daher in der Not vielfach auf Handels- und Finanzbranchen aus. Das wiederum öffnete Tür und Tor für neue Feindbilder, allemal, je mehr sich das Gefühl ausbreitete: „Geld regiert die Welt!“ Der Jude als Wucherer und Betrüger gehört zu den überlieferten Stereotypen.

Drittens: die politische Judenfeindschaft
Sie unterstellt, Jüdinnen und Juden würden als Clique oder kollektiv ihren sozialen und wirtschaftlichen Status ausnutzen, um politische Macht gegen andere zu erheischen. Auch das ist ein sehr altes Klischee. Im Mittelalter wurden Juden als „Brunnenvergifter“ verschrien. Im 20. Jahrhundert und bis heute gelten sie als Drahtzieher einer „Weltverschwörung“. Ein Beleg dafür sollen die „Protokolle der Weisen von Zion“ sein. Eine Fälschung, ein antisemitisches Machwerk, das nichts desto trotz noch immer verbreitet wird, aktuell zunehmend in islamisch-geprägten Ländern.

Viertens: die rassistische Judenfeindschaft
Diese Quelle des Antisemitismus sprudelte besonders gefährlich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie korrespondierte mit unhaltbaren Rassentheorien. "Sozial-Darwinismus" ist ein Stichwort hierfür. „Rasserein überleben oder chaotisch untergehen“, hieß die propagandistische Alternative. Die Juden wurden als minderwertige Fremdkörper dargestellt und mithin als Gefahr für alle Arier. Auch dafür wurden Juden Eigenschaften angedichtet, wie parasitär, fratzenhaft, hakennäsig, aber auch durchtrieben oder hinterlistig.

Allen vier Quellen ist gemein, dass sie sich scheinbar ergänzen und gegenseitig durchdringen. Sie schaukeln sich hoch und sie wabern sich fort. Unterschwellig oder bewusst angestachelt. Auch heute noch, so als hätte es den Holocaust, den systematischen Mord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden nie gegeben.

Fünftens: der sekundäre Judenhass
Darunter werden Stereotype gefasst, wonach sich Jüdinnen und Juden zu Unrecht in einer kollektiven Opferrolle aufspielten. Denn den vielfach behaupteten „Holocaust“ habe es nie gegeben. Es wird - insbesondere von Rechtsextremisten - unterstellt, der organisierte Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden sei eine Erfindung der Juden, um das deutsche Volk zu demütigen. Die Erinnerung an den Holocaust wird als moralische Aggression angesehen. Aus Opfern werden so Täter, denen man sich zu erwehren habe.

Sechstens: der antizionistische Judenhass
Im Kern geht es darum, dass dem Staat Israel das Existenzrecht generell aberkannt wird. Im Focus des Nah-Ost-Konflikts erscheinen Jüdinnen und Juden so als notorische Kriegstreiber gegenüber der arabischen Welt, insbesondere gegenüber dem Palästinensischen Volk. Wohlgemerkt: Nicht die Regierung oder die Politik Israels steht in der Generalkritik, sondern Jüdinnen und Juden werden in Kollektivhaft genommen. Auch das ist einmalig und bei keinem anderen Volk der Fall, egal an wie vielen Kriegen andere Staaten auch beteiligt sind.

So weit eine kleine Systematik über Stereotype, die Jüdinnen und Juden angelastet werden, und über Quellen, aus denen Judenhass geschöpft wird. Sie werden sich in den nächsten Tagen intensiver damit befassen. Ich verlasse jetzt das theoretische Terrain und widme mich im Folgenden der Politik.

IV. Aktuelle politische Konflikte

7. Dazu zwei Episoden aus der jüngeren Zeit, die miteinander zusammen hängen. Die erste: 2007 hatte ich die Bundesregierung gefragt, wie viele Schändungen jüdischer Friedhöfe in Deutschland sie in den zurück liegenden Jahren registriert habe. Die Antwort sorgte bundesweit für Schlagzeilen.

Denn im statistischen Schnitt wurde Woche für Woche ein jüdischer Friedhof geschändet. Das ist übrigens noch immer so. Allerdings wird dies selten als „antisemitischer Vorfall“ betrachtet, sondern häufig lediglich unter „Randale“ oder „Störung der Totenruhe“ abgebucht.

Gleichwohl: Im Bundestag fand sich eine informelle Arbeitsgruppe unter Leitung des Abgeordneten Gerd Weißkirchen (SPD). Er war damals zugleich Beauftragter der OSZE gegen Antisemitismus. Alle Fraktionen waren vertreten. Ich war für die Fraktion DIE LINKE dabei.

Wir waren uns einig: Es muss etwas geschehen. Wir vereinbarten, einen Handlungskatalog zu erarbeiten und einen entsprechenden Antrag dem Bundestag zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht vorzulegen, also rund um den 9. November 2008. Die gemeinsame Arbeit kam voran.

Sechs Wochen vor der Beschlussfassung fiel der CDU/CSU-Spitze ein, dass sie aus wahltaktischen Gründen keinen gemeinsamen Beschluss mit der Linksfraktion fassen wolle. Das war kleingeistig und sorgte für Unruhe bis in den Zentralrat der Juden hinein. Aber die Union blieb bei ihrer Linie.

Erst veränderte sie den Text bewusst derart, dass er für DIE LINKE untragbar wurde. So wurde behauptet, in der DDR seien Juden enteignet und außer Landes getrieben worden, weil sie Juden waren. Gegen diesen Versuch, die DDR mit dem NS-Regime gleichzusetzen, protestierten auch die anderen Fraktionen.

Dann legte die CDU/CSU einen Antrag vor, bei dem alle Fraktionen als Autor ausgewiesen waren, nur die Fraktion DIE LINKE nicht. Aus dem starken Signal gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben hierzulande, war ein engstirniges parteipolitisches Gezänk geworden. Der Bundestag stand vor einer Blamage.

DIE LINKE griff zu einem Trick, um zu retten, was noch zu retten war. Wir reichten einen eigenen Antrag ein. Es war akkurat derselbe Text, wie im Mehrparteienantrag. So konnten unter dem Strich doch noch alle Fraktionen für ihren jeweiligen Antrag stimmen, also der Bundestag insgesamt.

In der Plenar-Debatte warb ich für Vernunft. Wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus gehe, sollten alle anderen politischen Differenzen zurück stehen. Das sollte unsere Lehre aus der Geschichte sein und unsere Verantwortung für die Zukunft unterstreichen.

Dann kam die Abstimmung und urplötzlich wendete sich das Blatt. Elf Mitglieder meiner Fraktion nahmen nicht an der Abstimmung teil. Sie könnten mehrere Passagen im Text nicht mittragen, begründeten sie. Fortan war in den Medien von „Elf linken Abweichlern“ die Rede.

Damit Sie keine falschen Relationen verinnerlichen: Das Gros aller Abgeordneten der Linksfraktion hat dem Antrag „Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern“ zugestimmt. Aber das wurde im allgemeinen Trubel zweitrangig.

Sie können die Debatten, den Antrag und das Drumherum in Internet nachlesen. Auch auf meiner Web-Seite (www.petrapau.de) finden sie eine aktuelle Notiz dazu. Für mich war das eine Niederlage. Ich dachte, ich rede der CDU/CSU ins Gewissen und fand in der eigenen Fraktion kein ausreichendes Gehör.

V. Gefährliche Solidaritäten

8. Damit komme ich zur zweiten Episode. Wochen später, im Januar 2009, tobte der Krieg im Gaza-Streifen. Weltweit kam es zu Demonstrationen, entweder „Pro Palästina“ oder „Pro Israel“. Auch in Berlin. Ich bekam Anfragen von beiden Seiten, ob ich nicht auf ihren Kundgebungen sprechen könne.

Mit der Landesspitze der Partei DIE LINKE hatte ich vordem verabredet: Wir unterstützen keine dieser Demonstrationen. Die Gefahr war zu groß, dass wir politisch einseitig vereinnahmt werden, noch dazu im Krieg. Diese Verabredung hätten wir normalerweise auch durchgehalten.

Dann kam die Meldung: Auf der Kundgebung der Jüdischen Gemeinde würden alle großen Parteien reden, nur DIE LINKE nicht. Das ging vor dem Hintergrund der „Elf“ natürlich nicht. Die überwiegende mediale Botschaft wäre einhellig gewesen: „DIE LINKE erneut auf Distanz zu Israel!“

Also sprach unserer Landesvorsitzende Klaus Lederer. Vor ihm redete Walter Momper (SPD), der Präsident des Berliner Landes-Parlaments. Er versicherte allen Jüdinnen und Juden seiner Solidarität. Er bekräftigte das Existenzrecht des Staates Israels. Und er kritisierte die Siedlungspolitik in Israel.

Letzteres brachte ihm unüberhörbar Buh-Rufe ein. Unsere Befürchtungen bewahrheiteten sich so leider. Auf beiden Kundgebungen, hie „Pro Palästina“, dort „Pro Israel“ war nur eines gefragt: bedingungslose und kritiklose Solidarität mit der jeweiligen Seite. Alles andere war unerwünscht.

VI. Antisemitismus europaweit

Warum habe ich das so ausführlich beschrieben? Weil der Grad zwischen einer berechtigten Kritik an der Politik Israels und einem antizionistischem Antisemitismus zuweilen schmal ist. Die Grenzlinie lässt sich auch nicht pauschal ziehen. Entscheidend sind immer der Einzelfall und sein Kontext.

Ähnliche Demonstrationen gab es übrigens in zahlreichen europäischen Großstädten. Etliche davon waren eindeutig antisemitisch geprägt. So wurden auf einer Anti-Israel-Demo in London Plakate gezeigt: „Kill all Juice!“, Die bewusst falsche Schreibweise von „Jews“ sollte vor Strafen schützen.

In Katalonien (Spanien) solidarisierte sich ein linker Innenminister demonstrativ mit der Hamas und drohte damit, den offiziellen Gedenktag an den Holocaust abzusagen. In den Niederlanden wurde skandiert: „Hamas, Hamas - Juden ins Gas!“ In Frankreich wurden mehrere Synagogen mit Brandsätzen beworfen.

In mehreren europäischen Metropolen demonstrierten Gegner der Kriegsführung Israels im Gazastreifen nicht etwa vor der Botschaft Israels, sondern vor Synagogen und Gemeindehäusern. Solche Drohungen sind ganz klar antisemitisch. Sie richten sich nicht gegen die Politik, sondern gegen Juden.

Immer häufiger werden Juden und Nazis gleichgesetzt. Auf Transparenten und auf Web-Seiten prangen SS-Runen neben dem David-Stern. Auch diese Signale sind eindeutig: Die Verbrechen des NS-Regimes, inklusive der Shoa, werden so relativiert. Zugleich soll dadurch Israel zum Abschuss frei gegeben werden.

Ich will nur anmerken: Es gibt darauf eine Gegenreaktion, die genauso gefährlich ist. Sinngemäß: Die Deutschen haben gelernt, die toten Juden zu ehren. Sie sind aber nicht bereit, die lebenden Juden zu schützen. Gemeint ist damit die Bereitschaft, einen Präventivkrieg gegen den Iran zu führen.

VII. Existenzrecht Israels

9. Vor Jahresfrist wurde Israel 60 Jahre alt. Im Deutschen Bundestag gab es dazu eigens eine Debatte. Ich sprach für DIE LINKE. Auch das können sie nachlesen. Jetzt rufe ich lediglich die Passage auf, in der es mir um das Existenzrecht Israels ging. Ich erinnerte dabei an Imré Kertesz.

Imré Kertesz hat den Holocaust überlebt. Er ist Nobelpreis-Träger. In seinem Buch „Kaddisch für ein ungeborenes Kind“ beschreibt er, dass der Holocaust nicht nur ein Völkermord an sechs Millionen Juden war. Er hat zugleich tiefe Furchen in die Seelen der Überlebenden und Nachfahren gebrannt.

In einem Interview formulierte er das so: „Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar. Heute ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen und wurde so ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert ist, das kann wieder passieren.“

Auschwitz ist „tief in unsere Fantasie eingedrungen“. Schon dieser Satz mag beschreiben, warum Israel für viele Jüdinnen und Juden in aller Welt heute nicht nur aus religiösen Gründen heilig ist. Der Staat Israel ist für sie eine Überlebens-Versicherung. Und so begründet allein schon das Menschenrecht auf Leben das Existenzrecht Israels. (So weit aus meiner Rede am 29. Mai 2008)

Diese Hoffnung, der Staat Israel als Lebensversicherung, begegnet mir immer wieder. Bei Jüdinnen und Juden in Deutschland ebenso, wie bei Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Der Berliner Senat lädt seit Jahren Jüdinnen und Juden nach Berlin ein, die in der NS-Zeit emigrieren mussten.

Viele betreten seitdem erstmals wieder deutschen Boden und das mit sehr gemischten Gefühlen. Ich empfange sie regelmäßig als Vize-Präsidentin des Bundestages. Und ich sage ihnen, dass die Bundesrepublik Deutschland 2009 überhaupt nicht vergleichbar ist, mit Hitler-Deutschland 1933-1945.

Ich verschweige ihnen aber auch nicht, dass Antisemitismus noch immer als Volkskrankheit grassiert und latent abrufbar ist. Dabei unterscheidet sich Deutschland kaum von anderen europäischen Staaten. Aber der Holocaust war nun mal „Made in Germany“. Das begründet eine besondere Verantwortung.

VIII. islamisierter Antisemitismus

10. Gleichwohl ist Antisemitismus keine deutsche Eigenart, nicht in der Geschichte und auch nicht in der Gegenwart. Das belegen zahlreiche Untersuchungen. Und ohne auch nur einen Deut an der deutschen Verantwortung am Holocaust zu mildern, gebe ich ein Weiteres zu bedenken.

Nachgewiesen ist: Ohne willfährige Helfer und deren tatkräftiges Zutun hätten die Nazis ihr Juden-Vernichtungsprogramm nicht umsetzen können, nicht in Frankreich, nicht in den Niederlanden, nicht in Ungarn, nicht in Polen, nicht im Baltikum, nicht in der Ukraine und so weiter.

Der latente Antisemitismus ist also kein deutsches Phänomen. Er nistet in nahezu allen europäischen Staaten - in Köpfen und Kulturen. Und er findet neue Nahrung. Vielfach wird er islamistisch aufgeladen. Ein Problem, das im Unterschied zum Antisemitismus im Christentum erst jüngeren Datums ist.

Wissenschaftler sprechen daher auch nicht von einem islamischen Antisemitismus, sondern von einem „islamisierten“ Antisemitismus. Das heißt, ein Antisemitismus, der in der realen Geschichte des Islam kaum eine Rolle gespielt hat, wird nunmehr rückwirkend religiös aufgeladen.

„Nunmehr“ heißt: Mit der Zuspitzung des Nah-Ost-Konfliktes einerseits und mit einer zunehmenden Islamisierung des Denkens andererseits. Ähnlich, wie früher im Christentum, werden uralte Versatzstücke aus dem Koran aufgewärmt. Demnach seien Juden von jeher vertragsbrüchig, verlogen und raffgierig.

Andere Wissenschaftler, wie Prof. Dr. Wolfgang Benz, meinen sogar, der Antisemitismus im Islam sei vor allem ein „Import“ aus dem christlichen Abendland. Deshalb sei es auch kein neuer Antisemitismus, sondern der hinlänglich bekannte. Was ihn allerdings nicht besser macht.

Im Gegenteil: Dieser „islamisierte“ Antisemitismus kann besonders bedrohlich werden. Zum einen, weil er natürlich menschenfeindlich ist. Zum zweiten, weil er als direkte Anleitung zum Handeln daher kommt. Und drittens, weil ihn Migrantinnen und Migranten europa-weit aufgreifen (können).

Ich kenne das übrigens aus Berlin. Es gibt Kieze, da tragen jugendliche Gruppen den großen Nah-Ost-Konflikt gegeneinander in ihrem kleinen Umfeld aus, geistig und gewalttätig. Und sobald ihnen via Islam-Auslegung dafür auch noch eine religiöse Legitimation zu pass kommt, wird der Irrsinn fanatisch.

IX. religiöser Antisemitismus

11. Dieselbe Denkweise und dasselbe Muster sind aus dem Mittelalter überliefert. Die christlichen Missionsfeldzüge trugen immer judenfeindliche Züge. Das war zur katholischen Hoch-Zeit so. Das wurde nach Martin Luther unter Protestanten nicht besser. Spuren davon sind noch heute erlebbar.

An einer Kirche in Lutherstadt Wittenberg, der Wirkungsstätte Martin Luthers, können sie eine "Juden-Sau" besichtigen. Das war eine auch anderenorts gängige judenfeindliche Karikatur. Die Nazis drehten später das alte Schimpfwort um und machten aus „Juden-Sau“ schlicht „Sau-Jude“.

Wie tief solche antisemitischen Rituale im Volk verwurzelt sind, mag ein anderes Beispiel zeigen. Bis hoch in die 1980er Jahre wurden in west-deutschen Regionen zu Ostern Freudenfeuer angefacht. Als bierseliger Höhepunkt verbrannte man schließlich eine Strohpuppe, an Juden statt.

Diese historischen Spuren der Kirche mögen erklären, warum jede Äußerung des Papstes besonders gewogen wird. Benedikt XVI. war jüngst im Nahen Osten. Er hat sich dabei klar zum Existentrecht Israels bekannt. Er hat den Holocaust verurteilt und Judenhass als Gotteslästerung gebrandmarkt.

Aber: Derselbe Papst aus Deutschland hat erst kürzlich ein katholisches Ritual wiederbelebt, bei dem für die verdorbenen Seelen der Juden gebetet wird. Und er hat einen Holocaust-Leugner in den Schoß der Kirche zurückgeholt, den ultrakonservativen Bischof Richard Williamson.

Man könnte dies alles als missliche „Missverständnisse im Vatikan“ kommentieren. Aber ganz so einfach war es wohl doch nicht, auch nicht hierzulande. Kanzlerin Angela Merkel erbat eine Klarstellung vom Papst und erntete dafür umgehend Kritik aus den eigenen Reihen, insbesondere der CSU.

Diesen Streifzug durch die Kirchengeschichte habe ich eingeschoben, weil es auch heute noch Glaubensbrüder gibt, die ihre eigene Religion als die einzig seligmachende preisen. Umso wichtiger ist der Dialog der Religionen und Kulturen, allemal zwischen Christen, Juden und Muslimen.

Zugleich gibt es in Deutschland einen Diskurs über eine vermeintlich deutsche Leitkultur. Der Begriff ist eine Hülse für Sprengstoff. Seine Befürworter betonen mit „Leitkultur“ das Nationale und verkaufen dies als Integrationsplan. Dabei wird das christliche Abendland zum Standard erhoben.

Das ist letztlich der Versuch, andere Kulturen ein- und unterzuordnen. Analoge Debatten erleben wir zugleich auch auf EU-Ebene. Polen, zum Beispiel, versucht hartnäckig, den christlichen Gott in der EU-Verfassung bzw. im Vertrag von Lissabon zu verankern. Ich lehne beides ab.

Wir schienen bei alledem übrigens vor Jahrhunderten schon einmal weiter zu sein, zumindest bei Dichtern und Denkern. Stichwort: Gotthold Ephraim Lessing und seine „Ring-Parabel“. In diesem Sinne bin ich seit kurzem Mitglied im Kuratorium der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

X. Was tun?

12. Damit bin ich bei der berühmten Frage: „Was tun?“ Dazu werde ich erst mal kurz auflisten, was der Bundestag im November 2008 beschlossen hat. Da diese Vorschläge fraktionsübergreifend ausgehandelt wurden, sind sie natürlich Kompromisse. Aber sie sind mehr als nichts und mehr als vordem.

Erstens: Die Bundesregierung wurde verpflichtet, eine Experten-Kommission zu berufen. Die soll untersuchen und dem Bundestag regelmäßig berichten, welche nachweislichen Tendenzen zum Antisemitismus sie wahrnimmt. Und welche politischen Handlungs-Optionen sie dagegen empfiehlt. Das ist neu.

Zweitens: Der Bundestag übernahm mit diesem Beschluss zugleich die Arbeits-Definition der OSZE, was unter Antisemitismus zu verstehen ist. Das war kein formaler Akt. Das ist vielmehr die Voraussetzung dafür, antisemitische Vorfälle auch als solche kenntlich zu machen und gesellschaftlich zu ächten.

Drittens: Es wurde beschlossen, den Aufbau und die Pflege weiterer jüdischer akademischer, kultureller und gesellschaftlicher Institutionen mit Haushaltsmitteln des Bundes zu fördern. Das ist nötiger denn je, zumal sich sehr schnell zeigte, dass die aktuelle Weltfinanzkrise auch den Spendenfluss für jüdische Einrichtungen in Deutschland austrocknet.

Viertens: Der Bundestag regte weiter an, die Lehrpläne an Schulen zu erweitern, um jüdischem Leben und jüdischer Geschichte mehr Raum zu geben. Dasselbe gilt für die Grundlagen von Demokratie und Toleranz. Das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin hat dazu bereits gute Vorarbeiten geleistet.

Fünftens: Die Bundesregierung wurde beauftragt, der antisemitischen Hetze einen Riegel vorzuschieben, die durch ausländische Fernseh-Stationen via Satellit in Deutschland verbreitet wird. Das ist kein einfaches Thema, allemal in Zeiten des Internets. Aber es gehört zum Spektrum der Handlungsoptionen, die der Bundestag beschlossen hat.

XI. Zivilgesellschaft stärken

13. Das war - wie gesagt - vor einem reichlichen halben Jahr. Ich habe vor kurzem die Bundesregierung gefragt, wie weit denn die Umsetzung des Beschlusses gediehen sei. Die Antwort war lapidar. Es entwickele sich halt, wurde mir mitgeteilt. Deshalb will ich kurz erläutern, was meine weitergehenden Vorschläge sind, damit die Differenzen richtig klar werden.

Ich fordere seit langem eine unabhängige Beobachtungskommission für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus nach EU-Vorbild. Der Hintergrund dürfte einleuchten. Alle staatlichen Institutionen, egal ob sie Bürgermeister, Landrat oder Minister heißen, neigen zum Abwiegeln.

Bestenfalls weil sie Image-Schäden befürchten, wenn sie einschlägige Probleme einräumen müssen. Das mag verständlich sein, birgt aber ein Problem. Denn wo die Analyse fehlerhaft ist, bleibt auch die Gegenstrategie mangelhaft. Eine unabhängige Beobachtungsstelle hätte eine solche interne Bremse nicht.

Zweitens: Das Bündnis der NGO gegen Antisemitismus hatte einen Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus gefordert. Dieser Vorschlag war lange Zeit Bestandteil des fraktions-übergreifenden Antrages, wurde aber auf Drängen der CDU/CSU-Fraktion wieder gestrichen.

Die formale Begründung hieß: Wir hätten ohnehin schon ein Beauftragten-Unwesen. Das löse nichts. Ich halte diese Argumentation für halbherzig. Wir haben einen Menschenrechtsbeauftragten, der sich weltweit engagiert. Warum sollte es also nicht auch einen Menschenrechtsbeauftragten fürs Innere geben?

Mein Vorschlag indes ist weitergehender. Ich halte es nämlich für grundfalsch, dass die Probleme Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wahlweise beim Innen-Ministerium oder beim Familien-Ministerium angesiedelt sind. Alle Ressorts müssen ihren Beitrag leisten.

Deshalb lief mein Ansatz auch auf eine Beauftragte des Bundestages für Demokratie und Toleranz hinaus, die alle Ressourcen der Bundesregierung koordiniert und bündelt und eine permanente Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sichert.

Und drittens: Sie haben bemerkt, ich habe aus der Kontra-Beschreibung - gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus - einen Pro-Auftrag formuliert - für Demokratie und Toleranz. Und ich habe die Zivilgesellschaft in den Focus gerückt. Denn sie ist letztlich entscheidend.

Damit bin ich allerdings bei einem weiteren Defizit: Die bestehenden Förder-Programme gegen Rechtsextremismus, für Demokratie und Toleranz wurden finanziell leicht aufgestockt. Zugleich wurden bewährte Initiativen der Zivilgesellschaft quasi verstaatlicht und damit geschwächt.

Meine Grundthese, auch im Kampf gegen Antisemitismus, ist: Die Politik und der Staat müssen sich daran messen lassen, wie effektiv sie zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützt. Das Miteinander wird vor Ort gestaltet, nicht im Bundeskanzleramt, nicht im Bundestag, nicht im Innenministerium.

Noch mal den Blick auf Europa gerichtet: Im Februar diesen Jahres gab es in England eine internationale Parlamentarier-Konferenz. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einigten sich auf eine „Londoner Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus“. Ich habe Ihnen einige Exemplare mitgebracht.

XII. neue Erinnerungskultur

14. Nunmehr wende ich mich einigen inhaltlichen Fragen zu. Sie drängen ebenfalls. Ein zentraler Punkt dabei ist die „Erinnerungs-Kultur“. Also die Frage: Wie kann der Holocaust konstruktiv im kollektiven Gedächtnis gehalten werden, so dass sich Gleiches tatsächlich nicht wiederholen kann.

Alle Fachleute und Pädagogen sind sich einig: Wir sind diesbezüglich in einer Umbruchzeit. Die Zeitzeugen sterben aus. Und für die nachwachsenden Generationen ist die NS-Zeit ferne Geschichte, so fern, wie die Bauernkriege, obwohl die Gräuel des Holocaust kaum 70 Jahre her sind.

Natürlich bleiben die Gedenkstätten an authentischen Orten, etwa die „Topografie des Terrors“ in Berlin oder die Todeslager in Buchenwald, Sachsenhausen oder Ravensbrück unverzichtbar. Sie sind übrigens allesamt chronisch unterfinanziert - materiell und personell.

Auch symbolische Orte des Erinnerns sind wichtig. Ich freue mich sehr darüber, welchen großen Zuspruch das Denkmal an die ermordeten Jüdinnen und Juden auf dem Gelände des einstigen Führer-Bunkers erfährt. Zumal es ein deutsches Denkzeichen an die Täter im Land der Täter ist. Das ist einmalig.

Aber die Jugendlichen heute sind keine Täter und sie fühlen sich auch nicht in einem Land der Täter. Zu recht nicht. Umso spannender bleibt die Frage, wie man ihnen die jüngere Geschichte so nahe bringen kann, dass sie ihr Herz und ihren Verstand erreichen? Dazu zwei Beispiele:

Als ich kürzlich in Schleswig-Holstein unterwegs war, besuchte ich die Wanderausstellung der Anne-Frank-Stiftung. Das Tagebuch der Anne Frank ist ja im guten Sinne ein Bestseller, wenn es um die europa-weite Verfolgung von Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit geht, vor allem, weil es so persönlich ist.

Wie bei anderen Ausstellungen auch, kamen Schulklassen, freimütig oder geschickt. Doch dann erlebte ich zwei Neuerungen. Die erste: Das Ausstellungspersonal waren nicht etwa gereifte Pädagogen. Es waren angehende Abiturienten, die mit den Schul-Besuchern auf Augenhöhe diskutierten.

Die zweite: Sie konfrontierten die Schülerinnen und Schüler nicht etwa mit dem Hoffen und Leiden der Anne Frank. Sie diskutierten mit den Schülerinnen und Schüler über deren Alltag: Über Ausgrenzungen auf dem Schulhof und darüber, wie sie leben wollen. Welche Anerkennung sie erwarten und was sie stört.

Es waren irdische, lebendige, spannende Debatten. Und je klarer allen wurde, wie wichtig Toleranz und Solidarität auch für ihr Leben ist und je greifbarer wurde, dass beides nur als Geben und Nehmen funktioniert, umso mehr näherten sich alle - auch innerlich - der Geschichte der Anne Frank.

Dieses Herangehen könnte Schule machen. Das Zentrum für Antisemitismus-Forschung an der TU hat dafür im europäischen Verbund weiterführende Angebote unterbreitet. Auch die Initiative „Gesicht zeigen“ und die „Amadeu-Antonio-Stiftung“ arbeiten mit ähnlichen Konzepten.

Das zweite Beispiel: Jüngst in Israel besuchte ich nicht nur Yad Vashem, sondern auch das „Haus der Ghetto-Kämpfer“. Dazu gehört eine Gedenkstätte, die sehr sinnlich nachvollziehen lässt, wie jüdisches Leben erst stigmatisiert, dann unterdrückt und schließlich vernichtet wurde.

Aber das war nicht das besonders Spannende. Angeschlossen ist ein „Zentrum für humanistische Erziehung“. Hier treffen sich Jugendliche - Juden, Christen, Moslems, Israelis, Palästinenser, Araber - also kunterbunt, um über Ansprüche und Konflikte in einer multikulturellen Gesellschaft zu diskutieren.

Auch hier steht am Anfang nicht das Schock-Erlebnis „Holocaust“, sondern das widersprüchliche Miteinander heute und morgen. Und auch hier hieß die Überschrift nicht „Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“, sondern gemeinsam Leben in Demokratie und Toleranz.

Dann machten wir eine interessante Beobachtung, über die ich noch heute nachdenke. Als wir in die Ghetto-Ausstellung kamen, trafen wir auf zwei unterschiedliche Besuchergruppen. Da waren die Multikulturellen vom Zentrum für humanistische Erziehung und da kamen kompanieweise israelische Soldaten.

Alles junge Menschen, überwiegend Frauen. Es war regelrecht spürbar, dass sie mit unterschiedlichen Vorstellungen hinein gingen und dass sie die Ausstellung mit anderen Motivationen verließen. Die einen bereiteten sich auf Militäreinsätze vor, die anderen auf ein interkulturelles Israel in Frieden.

Schluss-Gedanken

15. Eingangs hatte ich gesagt: Antisemitismus ist irrational und trotzdem in allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Schichten abrufbar. Das beantwortet allerdings nicht die Frage, ob es bestimmte Gruppen gibt, die dafür besonders anfällig scheinen. Dazu gibt es verschiedene Untersuchungen.

Eine meint: Von rechtsextremen Hardlinern abgesehen, steigt die Anfälligkeit für Antisemitismus mit sinkender Bildung. Eine andere deutet darauf hin, dass antisemitische Klischees vor allem dort leichter verfangen, wo sich Menschen sozial herabgesetzt fühlen. Nehmen wir an, das ist so.

Dann stellen sich allerdings noch ganz andere Fragen. Zum Beispiel: Was nützt das beste Spezial-Programm gegen Antisemitismus, wenn das allgemeine Schulsystem immer weniger Bildung und immer mehr Auslese bewirkt? Das jedenfalls ist der PISA-Befund für die Bundesrepublik Deutschland.

Und was nützt das beste Spezial-Programm gegen Antisemitismus, wenn immer mehr Menschen sozial abgehängt werden? Auch das ist ein Deutschland-Trend. Und noch mehr trifft dies weltweit zu. In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gelten soziale und Bürger-Rechte als gleichrangig.

Trotzdem noch mal ganz zugespitzt gesagt: Weder Armut noch Dummheit rechtfertigen eine menschenverachtende Ideologie. Worum es mir geht: Der Kampf gegen jedwede „gruppenfeindliche Menschenfeindlichkeit“ ist keine Ressort-Frage, sondern eine gesamt-gesellschaftliche Herausforderung.

Daran mangelt es. Gleichwohl lasse ich keine ultra-linken Kurzschlüsse gelten. Etwa nach dem Motto: „Die Welt an sich ist schlecht. Wir treffen uns nach der Revolution!“ Nein! „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, aller Menschen, überall und jederzeit. Dafür lohnt jedes Engagement - im Kleinen und Großen.
 

 

 

17.6.2009
www.petra-pau.de

 

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