Mein Plädoyer für eine 3. Erneuerung

Rede von Petra Pau auf der Hauptversammlung der LINKEN Marzahn-Hellersdorf
Berlin, 28. November 2015

⇒ [pdf]

1. Was läge näher, als dass ich heute über das Thema Nummer 1 spreche, aktuell und in den zurückliegenden Monaten: die Flüchtlingspolitik.

Sie berührt uns und sie betrifft alle. Sie polarisiert. Die einen schüren Hass, die anderen helfen solidarisch, dazwischen fragen viele besorgt: Was wird das?

2. Ich sollte auch über den neuen Untersuchungsausschuss des Bundestages zur NSU-Nazi-Mordserie und dem totalen Staatsversagen reden.

Erneut bin ich Obfrau der Fraktion DIE LINKE. Und ich werde nicht müde, auf eine Parallele hinzuweisen, die etwas mit der Flüchtlingsfrage zu tun hat.

Anfang der 1990er Jahre gab es Pogrome gegen Migranten und Asylbewerber. Stichworte: Hoyerswerda und Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Solingen, usw..

Die wenigsten Täter wurden belangt, die meisten fühlten sich sogar ermutigt. Denn das von ihnen verhasste Asylrecht wurde damals politisch gekappt.

Wir haben derzeit eine ähnliche Lage, ähnliche Stimmungen. Niemand kann ausschließen, dass erneut Nazis auf terroristischem Kriegspfad sind.

Und selbstverständlich gilt unsere Solidarität den Flüchtenden und allen, die ihnen aufopferungsvoll helfen, hauptamtlich und ehrenamtlich.

3. Schließlich sind auch die Terroranschläge in Paris und anderswo mein Thema, allemal als Innenpolitikerin der LINKEN im Bundestag.

Und es kotzt mich an: Die Umstände waren noch nicht einmal klar, schon tummelten sich alle in den Medien, die schon immer mehr Überwachung wollen:

Grenzen dicht, Bundeswehr im Innern, mehr Datenspeicherung und Geheimdienste, weniger Freiheit und Bürgerrechte.

Wer all das wieder und wieder fordert, fühlt nicht mit den Opfern, sondern solidarisiert sich letztlich mit den Terroristen, die genau das wollen.

In diesem Zusammengang sei auch das erwähnt. Laut einer Umfrage fordern 83 % der LINKEN, der Verfassungsschutz möge sich endlich PEGIDA vornehmen.

Das ist unlogisch. Wir können nicht grundsätzlich die Auflösung des Verfassungsschutzes fordern, im Speziellen aber seinen stärkeren Einsatz.

DIE LINKE darf all dem nicht auf den Leim gehen, wir müssen eine moderne sozialistische Bürgerrechtspartei bleiben.

4. Aber ich will heute den Bogen weiter spannen. Weil mich Fragen drängen und mein Gefühl mahnt: DIE LINKE. verharrt im Alten und verpasst das Neue.

Wir stecken mitten in einem historischen Umbruch, vergleichbar mit der industriellen Revolution vor 200 Jahren.

Die beiden großen Schlagwörter heißen „Globalisierung“ und „Digitalisierung“.
Und beide Entwicklungen beschleunigen sich wechselseitig.

Wohin das letztlich führen wird oder kann, darüber scheiden sich die Geister: die einen sind eher optimistisch, andere eher pessimistisch.

Aber beide Entwicklungen, die Globalisierung und die Digitalisierung, sind ebenso wenig aufzuhalten, wie seinerzeit die 1. industrielle Revolution.

Nur, dass sie nicht 100 und mehr Jahre brauchen, um ihr Potential zu entfalten, sondern lediglich ein oder zwei Jahrzehnte, also jetzt.

Es gab mal ein linkes Lied mit dem schönen Text:
„Mit uns zieht die neue Zeit.“ Ja, so war oder schien es.

Wer oder was aber zieht in der neuen Zeit?
Und was haben wir als Linke damit zu tun und dafür anziehend in petto?

5. Jüngst gab es eine Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Internet 2.0“, „Produktion 4.0“, was meinen die Parteien dazu, von Union bis Piraten?

Ihr ahnt es: DIE LINKE kam dabei nicht gut weg. Was nicht heißt, dass die anderen richtige Antworten hätten. Aber sie suchen immerhin welche.

In meiner Partei dominiert prominente Abwehr. Die einen sagen: Wir sind und bleiben sozial, Punktum! Andere wollen gar zurück zum Nationalen.

Mir fällt zu alledem ein Gorbatschow-Spruch ein, der von Helmut Eddinger damals so übersetzt wurde: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“

6. Warum erzähl ich das heute, auf dieser Hauptversammlung?
Zumal ich eingangs ja aktuelle Themen benannt habe, die drängen.

Ich habe dafür drei Gründe:

Erstens gibt es angeblich nie einen guten Zeitpunkt, um Differenzen und Defizite parteiintern aufzurufen, schon gar nicht in Wahlkampfzeiten.

Aber wir sind noch nicht im Wahlkampf, jedenfalls noch nicht unmittelbar.
Also spreche ich jetzt darüber, wann sonst?

Zweitens: Es gibt eine Studie aus der Rosa-Luxemburg-Stiftung über DIE LINKE. Sie ist jetzt ein Jahr alt und alarmiert.

Im Kern sagt sie: DIE LINKE war von 2005 bis 2009 im Aufwind. Seither stagniert sie, schlimmer noch: Sie verliert an gesellschaftlichem Zuspruch.

Übrigens unabhängig davon, ob sie stramm auf Oppositionskurs ist, in Ländern mitregiert oder Regierungen toleriert, egal, ob Ost oder West.

Drittens ist zu befürchten, dass wir 2016/2017 ein neues Parteien-Spektrum haben werden. Die AfD könnte im Bund und in Ländern relevant sein.

Insgesamt drohen wesentliche Teile der Gesellschaft nach rechts zu kippen.
Auch das kann einer LINKEN nicht egal sein.

7. Wenn aber all diese Überlegungen stimmen, dann brauchen wir eine neue strategische und programmatische Debatte in der Partei DIE LINKE.

Anderenfalls droht womöglich, was Horst Kahrs auch andeutet: Es könnte DIE LINKE in zehn Jahren nicht mehr geben und niemand vermisst sie.

Die Signale, die ich aus Bundesvorständen empfange, sprechen nicht für einen strategisch-programmatischen Aufbruch ins digitale Zeitalter.

Aber das sollte uns im Land Berlin und in Marzahn-Hellersdorf nicht hindern, selbstbewusst die neuen Themen intensiver aufzugreifen.

Ich bin dazu gerne bereit. Bei unserem regelmäßigen Unternehmer-Frühstück spielen sie übrigens längst eine Rolle. Aber das reicht nicht, finde ich.

8. Es reicht auch nicht, moderne Reizwörter zu setzen. So las ich jüngst, dass meine Partei DIE LINKE einen Sozialismus.2.0 anstrebt. Was bitte ist das?

Das Forum Demokratischer Sozialismus der Linkspartei, dem ich nahe stehe, sprach jüngst von einer Erneuerung 4.0. Auch gut und genauso unklar.

Zur Erinnerung meine Zählweise: Wir hatten historisch eine radikale Erneuerung 1989/90 von der SED zur PDS. Das war die erste.

Mitte der 1990er Jahre gab es einen „Brief aus Sachsen“.
In ihm wurde dafür plädiert, die PDS originär als Ost-Partei zu etablieren.

Dagegen wandte sich damals ein „Brief aus Berlin“.
Er warb für eine 2. Erneuerung, hin zu einer gesamtdeutschen Linken.

Dies geschah weitgehend 2005/2007 mit der Vereinigung von PDS und WASG zu einer bundesweiten LINKEN, erst als Fraktion, dann als Partei.

Was wir aus meiner Sicht jetzt brauchen, ist eine 3. Erneuerung. Weg von einer sozialen Bewahrungspartei, hin zu einer globalen Zukunftspartei.

Übrigens in Übereinstimmung mit Karl Marx. Seine gesellschaftlichen Utopien basierten immer auf revolutionären Änderungen in der wirtschaftlichen Welt.

Kurzum: Entweder wir LINKE kommen im 21. Jahrhundert an oder wir werden als Partei überflüssig. Letzteres wollen wir alle nicht. Also: Packen wir's an!
 

 

 

28.11.2015
www.petra-pau.de

 

Seitenanfang

 

DIE LINKE.: Reden & Erklärungen

 

Lesbares

 

Startseite