Aktuelle Notiz: 16 Jahre deutsche Einheit

von Petra Pau
Berlin, 3. Oktober 2006

1. 

Es wird gefeiert, Jahr für Jahr, von Staatswegen. Heute war Kiel Gastgeber, weil Schleswig-Holstein den Vorsitz im Bundesrat hat. Gottesdienst, Festakt, Biermeile, das übliche Programm. Morgen werden die Zeitungen berichten. Übermorgen ist alles vergessen. Das historische Projekt „Deutsche Einheit“ verschwindet wieder aus dem Focus. Der Alltag hat uns wieder, in Nah-Ost oder als Gesundheits-„Reform“.

2. 

Welcher Alltag? Und welche Einheit? Die Schere zwischen Arm und Reich wird bundesweit immer größer und es ist auch nicht zusammen gewachsen, was zusammen gehört. Jedenfalls nicht so, wie es gern beschrieben wird. Die bundesdeutsche Wirklichkeit 2006 widerspricht allen Sonntagsreden. Auch der persönlich dosierten, die Bundeskanzlerin Angela Merkel heute dem staatlichen Reigen beisteuerte.

3. 

So heißt das Zusammenwachs-Zitat von Willy Brandt übrigens unverkürzt: „Die wirtschaftliche Aufforstung und die soziale Absicherung liegen nicht außerhalb unseres Leistungsvermögens. Die Überbrückung geistig-kultureller Hemmschwellen und seelischer Barrieren mag schwieriger sein. Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammen wächst, was zusammengehört.“

4. 

Es gibt entstellende Narben, viele. Wer heute im Osten die Schule verlässt, kann sicher sein, dass seine Rente auch noch in 40 Jahren geringer ausfällt, als die vergleichbarer Jugendlicher im Westen. Und ein Soldatenbein-Ost am Hindukusch ist noch immer schlechter versichert, als ein Soldatenbein-West. Der Krieg ist Wahnsinn, die Ost-West-Differenz ist Irrsinn, aber Realität - 16 Jahre nach der „Einheit“.

5. 

Das war die Ost-Sicht. Aber auch die West-Sicht wurde negativ geprägt. Je nachdem, erscheint der Osten als Klotz am Bein oder als unheilvolles Zukunftsmodell. Als Klotz am Bein, weil er Milliarden verschlingt. Als Zukunftsmodell, weil hier vorweg genommen wird, was generell droht: Sozial- und Demokratieabbau. Im Osten muss noch immer länger gearbeitet werden, für weniger Lohn. Und im Osten wurden demokratische Standards, etwa im Umweltschutz, außer Kraft gesetzt.

6. 

Ein Ergebnis dessen ist politische Apathie und Demokratieverdruss. Nur noch ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern hält das politische System der Bundesrepublik Deutschland für ein gutes. Das ist ein Riesen-Einfalls-Tor für rechtsextremistische Parteien, wie die NPD. Die Antwort der herrschenden Politik: Die NPD sollte verboten werden. So wahr, so kurzsichtig, so verantwortungslos.

7. 

Der „Einigungsvertrag“ von 1990 barg Kardinal-Fehler. Sie wirken fort. Im Großen, wie im Kleinen. Zum Beispiel das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“. Hunderttausende Ossis bangen 2006 um ihre Kleingärten oder Garagen. Ihr ganz normaler Alltag ist bedroht und das Kieler-Wort der Kanzlerin - „geht ins Offene, geht ins Ungewisse“ - dürften sie mit Hohn und Angst registriert haben.

8. 

Ost und West gemeinsam trifft indes die seit Jahren vorherrschende Politik, egal, ob die als „Hartz IV“ oder als Föderalismus-Reform daher kommt. Grundwerte, wie Solidarität, werden abgewickelt. Der Sozialstaat wird geschröpft, ebenso die Bürgerrechte, und mit alledem wird die Deutsche Einheit zwischen Nord und Süd, Ost und West, nachhaltig torpediert. Das ist die deutsche Leitkultur seit dem Wende-Jubel.

9. 

War deswegen alles schlecht? Mitnichten. Ich habe immer dafür geworben, dass das neue Deutschland demokratischer sein muss, als die untergegangene DDR, und sozialer, als die fortbestehende BRD. Doch das war nicht gewollt. Anfang der 90er Jahre gab es einen Ost-West-Konvent für eine moderne deutsche Verfassung. Er scheiterte mit seinen Ideen an den etablierten Parteien, von CSU bis SPD.

10. 

Zwei Mal haben sich DDR-Bürgerrechtler seitdem mit einer Erklärung zu Wort gemeldet. 2001 zu den „Otto-Paketen“ und 2003 zu "Hartz IV". Resonanz? Pustekuchen! Bürgerrechtler wurden hofiert, solange sie in Opposition zum DDR-System standen. Und sie werden verschwiegen, seit sie in Opposition zum BRD-System stehen. Auch davon war heute in Kiel keinerlei Rede. Gottesdienst, Festakt, Biermeile - armes Deutschland!
 

 

 

3.10.2006
www.petra-pau.de

 

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