Das „nie wieder!“ ist kein Selbstläufer

Grußwort von Petra Pau zur Verabschiedung von Dr. Norbert Kampe, Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannseekonferenz“
Berlin, 18. Februar 2014

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Zuletzt war ich am 24. Januar hier, gemeinsam mit Avitall Gerstetter.
Sie ist Kantorin der Jüdischen Gemeinde und eine begnadete Sängerin.
Dabei waren auch ihre Großtante Jolly, sowie Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums. Und natürlich Norbert Kampe.

Er gab Einblicke in das hier Geschehene 1942. Avitall sang jüdische Lieder.
Eine Kerze aus Auschwitz wurde zum Gedenken angezündet. Danach sprachen die Schülerinnen und Schüler noch über eine Stunde mit Avitall und vor allem mit Jolly.

Viele, sehr viele aus der Familie von Avitall Gerstetter wurden Opfer des Holocaust. Jolly überlebte Auschwitz als kleines Mädchen. Avitall hatte die Idee - allen Opfern des Faschismus gedenkend - an den tödlichen Weg in der NS-Zeit in umgekehrter Richtung zu erinnern: Von der Gedenkstätte Auschwitz zum Haus der Wannseekonferenz in den Berliner Dom. Dort fand am 27. Januar ein beeindruckendes Konzert statt.

Großtante Jolly war dabei. Sie lebt in Israel und war seither noch nie wieder in Auschwitz, auch nicht in Deutschland. Als Avitall sie zum Ende des Dom-Konzertes Jolly auf die Bühne leitete, erhoben sich alle Anwesenden in Ehrfurcht von ihren Plätzen.

Ein, zwei Tage später wurde Avitall Gerstetter bei Facebook gefragt, wie ihre hoch betagte Großtante Jolly denn die ganzen Eindrücke verkraftet habe. Avitalls Antwort: Jolly sei sehr müde, aber froh, das alles auf sich genommen zu haben. Soweit der gute Teil dieser Geschichte.

Diese aktuellen Tage zwischen Auschwitz, Wannseekonferenz und Dom hatten allerdings noch eine andere Facette, die weniger bekannt ist. Zuerst fand Avitall Gerstetter an ihrem Briefkasten einen Schweinekopf. Wenig später waren die Reifen ihres Autos durchstochen. Und am Abend nach dem Dom-Konzert wurde einer ihrer Musiker-Freunde auf offener Straße als „Drecks-Juden“ beschimpft.

Erst wollte sie nicht, aber dann machte Avitall Gerstetter doch einen Termin beim Landeskriminalamt. Das Gespräch war für sie ernüchternd. Ja, sie sei wohl beleidigt und bedrängt worden, aber Antisemitismus könne man nicht erkennen, wurde ihr beschieden. Sie solle aufpassen, ob ihr auf der Straße jemand auffällig folge, und sie möge niemand ins Haus lassen, der dort nicht hingehöre, so die LKA-Ratschläge.

Auch das alles ist Berlin anno 2014!

Bei alledem schrillen meine inneren Glocken. Ich war Mitglied im Bundestags-Untersuchungsausschuss zum NSU-Nazimord-Desaster. Es ging dort nicht um Antisemitismus. Aber um Rassismus, auch von Staats wegen. Und um tödlich unterschätzten Rechtsextremismus.

Vor zwei Wochen war ich beim Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam.
Die Breite und Tiefe der Forschung und Lehre dort hat mich beeindruckt. Sehr schnell waren wir auch bei der jüngsten Studie über Antisemitismus der Europäischen Kommission für Menschenrechte. Sie spiegelt Erfahrungen von Jüdinnen und Juden und bescheinigt (Zitat) „antisemitische Diskriminierung in besorgniserregendem Ausmaß“.

Bleiben wir in Deutschland: Ein Viertel der befragten Jüdinnen und Juden haben sich demnach jüngst mit dem Gedanken befasst, Deutschland zu verlassen. Und Zweidrittel geben sich öffentlich nicht als Jüdinnen und Juden zu erkennen. Etliche meiden sogar jüdische Veranstaltungen und Gebäude, sagen sie.

Dass es in anderen EU-Staaten noch drastischer ist, macht es nicht besser.
Zum Beispiel in Ungarn, wo offen gegen Jüdinnen und Juden gehetzt wird.
2013 besuchte ich die Jüdische Gemeinde Wien. Die Zahl der Jüdinnen und Juden aus Ungarn, die dorthin ins Exil flüchten, wächst beständig.

Ich erzähle dies alles nicht, weil ich düstere Bilder mag. Sondern weil der Alltag vielfach anders ist, als politische Sonntagsreden zuweilen gaukeln. Und weil ich Imre Kertész noch gut im Ohr habe, als er im Bundestag mahnte:
Was einmal geschah, obwohl es undenkbar schien, kann wieder geschehen.

Dass dies nie wieder geschehe, das ist der tiefere Sinn des Hauses der Wannseekonferenz und anderer Gedenkstätten. Sie spiegeln Geschichte, der Zukunft wegen. Dafür danke ich Norbert Kampe. Und dafür wünsche ich allen gleichsam Engagierten kluge Erfolge.

Ich habe am 24.Januar Großtante Jolly auf dem Weg zum Haus der Wannseekonferenz gestützt. Sie hat mich im Berliner Dom gedrückt.
Das war ein besonderes Gefühl. Und ein wortloses Versprechen. Das „Nie wieder“ nach der Nazi-Zeit ist kein Selbstläufer.
 

 

 

18.2.2014
www.petra-pau.de

 

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