IPS in einer rasanten Zeit

IPS-Auftaktveranstaltung 2015, Berlin, 26. März 2015
Rede von Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags

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Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Christian Thomsen,
Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten,

ich begrüße Sie in meiner Heimatstadt Berlin und ich gratuliere Ihnen. Weil Sie zu den Auserwählten gehören, die das Internationale Parlaments Stipendium des Deutschen Bundestags 2015 wahrnehmen können.

Das IPS-Programm begann vor fast 30 Jahren. Also bereits bevor sie geboren wurden. Der Anfang war klein, aber fein. 1986 lernten elf junge Leute aus den USA die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland kennen. Der Bundestag war damals noch in Bonn am Rhein beheimatet, die Welt war in einen West- und einen Ost-Block geteilt. Das alles scheint lange her.

Drei Jahre später, 1989/1990, beschleunigte sich die Geschichte rasant. Die sowjetisch-geprägte Hemisphäre zerfiel. Für Deutschland hieß das: Die alte Bundesrepublik wurde um die DDR bereichert. „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört“, hoffte Willi Brandt, Ex-Bundeskanzler und Friedens-Nobel-Preisträger. Zu den dann folgenden Veränderungen gehörte auch, dass der Bundestag nach Berlin an die Spree umzog. Das war zehn Jahre später, 1999, also vor 16 Jahren.

Auch das IPS-Programm nahm Fahrt auf. Inzwischen haben über 2.200 junge Leute das einzigartige Angebot wahrgenommen. Und damit Sie ein Gefühl bekommen, in welch illustrer Gesellschaft Sie sich befinden, zähle ich einfach mal die Länder auf, die hier im Saal vertreten sind:

Ägypten, Albanien, Algerien, Armenien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Estland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Israel, Kasachstan, Kosovo, Kroatien, Lettland, Libanon, Litauen, Marokko, Mazedonien, Moldau, Palästinensische Gebiete, Polen, Republik Belarus, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakische Republik, Slowenien, Türkei, Tschechische Republik, Tunesien, Ukraine, Ungarn und die USA.

Ich hoffe, ich habe kein Heimatland vergessen.
Seien Sie alle herzlich willkommen!

Die große Überschrift Ihres Studien-Programmes heißt „Demokratie“. Demokratie ist mehr als ein lebendiges Parlament. Aber es gehört dazu. Sie werden den Bundestag kennen lernen, nicht nur zuschauend, sondern aktiv als Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiter. Sie werden erfahren, was gewählte Parlamentarier tun oder lassen, wie Fraktionen arbeiten, was in Ausschüssen geschieht, wie Plenardebatten ablaufen, was Wahlkreisarbeit bedeutet und vieles andere mehr.

Und umgekehrt weiß ich, dass auch die Mitglieder des Bundestages, mit denen Sie die kommenden Monate arbeiten werden, sehr neugierig auf Sie und ihre Erfahrungen sind. In meinem Büro waren schon Stipendiaten aus Aserbaidschan, aus Bulgarien, aus Israel, aus den USA, aus Serbien und Tunesien. Es war immer ein wechselseitiges Geben und Nehmen und das umso besser, je geläufiger Ihnen die deutsche Sprache wurde.

Dabei werden Sie nicht nur das deutsche Parlament kennenlernen. Sie sind ab heute eine multikulturelle und interreligiöse Gemeinschaft. Seien Sie Botschafter bzw. Botschafterin Ihres Landes und seien Sie zugleich neugierig auf das vermeintlich Andere. Die Welt ist vielfältig und das ist gut so. Diese Erfahrung wird Sie in den kommenden Monaten begleiten und für Ihr weiteres Leben bereichern.

Das IPS-Programm des Bundestages lebt fraglos auch vom Engagement der Partner. Das sind die drei großen Berliner Universitäten: die Freie Universität, die Humboldt-Universität und die Technische Universität. Hinzu kommen die Stiftungen aller Bundestag-Parteien, also der CDU, der CSU, der SPD, der LINKEN und der Grünen, die Ihre Studien ebenso bereichern werden.

Ihre IPS-Monate fallen zudem in eine Zeit, die viele mit Sorge betrachten, auch mit Angst. Es gibt internationale Konflikte. Verkürzt nenne ich das Stichwort „Ukraine“. Es gibt mörderische Kriege. Wieder verkürzt verweise ich auf die so genannten islamistischen Terroristen. Es gibt fundamentale Auseinandersetzungen über die Zukunft der Europäischen Union. Noch mal verkürzt rufe ich als Beispiel Griechenland auf. Alles sehr verkürzt, alles ist viel komplexer.

Sie werden alsbald merken, dass es auch zu diesen Fragen im Bundestag oft sehr unterschiedliche, ja konträre Auffassungen gibt. Sie müssen nichts entscheiden. Sie müssen auch nicht die Meinung ihres Bundestagsbüros übernehmen. Sie können alles prüfen, für sich wägen und auch dadurch persönlich gewinnen.

Noch eine Empfehlung: Das Reichstagsgebäude hat eine sehr widersprüchliche Geschichte. Hinzu kommen zahlreiche Kunstwerke in allen Parlamentsgebäuden. Nehmen Sie sich die Zeit, auch diese wahrzunehmen.

Darunter sind historische Mahnungen, wohin es führen kann, wenn die Demokratie gering geschätzt oder gar liquidiert wird. Aber auch Ansprüche, interreligiöse und multikulturelle, die hierzulande mitnichten nur harmonisch verlaufen. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist keine Insel der Glückseeligen.

Schließlich auch das: Wir leben im Internet-Zeitalter. Das ist mehr als Facebook oder Smartphone. Das ist ein Aufbruch in völlig neue Verhältnisse, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Ob diese besser oder schlechter werden, will ich hier gar nicht erörtern. Das hängt übrigens auch von Ihnen ab. Es geht um weitreichende Entscheidungen.

Manche, z. B. Jeremy Rifkin, betonen die Chancen für mehr Demokratie und Gerechtigkeit. Nicht Minderkluge warnen vor den Gefahren für Bürgerrechte und Demokratie, die in einem IT-Kapitalismus innewohnen. Inwieweit das alles politisch relevant ist, können Sie wahrscheinlich weniger im Plenum des Bundestages, aber durchaus in einschlägigen Fachausschüssen erfahren.

Ich erinnere bei aller Geschwindigkeit zugleich gern an eine kluge Tradition amerikanischer Indianer-Stämme. Alles, was zu entscheiden war, prüften sie mit der Frage: Was bedeutet das für die siebte Generation nach uns? Ja, das klingt utopisch.
Als die Zukunft, militärisch und zivil, in der Macht der Atome gesucht wurde, hatte niemand nach der siebten Generation gefragt, nicht der dritten, nicht nach der ersten.

Inzwischen ist die Welt noch schneller geworden, sehr viel schneller. Alle zwei Jahre, heißt es, verdoppelt sich das Wissen, weltweit. Aber ist die Welt deswegen auch klüger geworden? Wessen Wissen verdoppelt sich? Und wer gewinnt dadurch?

Reiche werden immer reicher und Armen immer zahlreicher. Dieser Befund ist eine der größten Herausforderung für die Demokratie. Und umgekehrt. Die Demokratie muss sich völlig neu beweisen: Das Internet birgt Aufbrüche und Abstürze.

Insofern haben Sie ein wahrlich universelles IPS-Studium gewählt. Auf welche Fragen Sie wo, bei wem und wie Antworten suchen, das bleibt allein Ihre Entscheidung.

Das gesamte IPS-Programm wird vom Präsidium des Deutschen Bundestags begleitet. Ich begrüße Sie daher auch herzlich im Namen des Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert. Und das Programm lebt von den vielen guten Geistern, die den aktuell 116 Stipendiaten mit Rat und Tat zur Seite stehen, im Bundestag, in den Unis, in den Stiftungen, in den Wahlkreisen. Ihnen allen danke ich besonders.
 
 

 

 

26.3.2015
www.petra-pau.de

 

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