Die Haltung zu Snowden ist ein Lackmus-Test

Rede auf dem Landesparteitag Mecklenburg-Vorpommern
Greifswald, 24. November 2013

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0. 

Wahlen
 
Ihr habt die Bundestagswahl bewertet. Ich habe - gefühlt - auch schon an 37 Auswertungen teilgenommen. Deshalb dazu nur zwei Anmerkungen:
 
Die erste:
Die Wahllokale waren kaum geschlossen, schon zirkulierten die ersten innerlinken Papiere, wer linker Gewinner, wer linker Verlierer sei.
Ich habe noch mal nachgezählt: DIE LINKE (West) zog rund 1.850.000 Zweit-Stimmen, DIE LINKE (Ost) ca. ebenso viele.
DIE LINKE (West) oder DIE LINKE (Ost) wäre also solo mit bundesweit 4,3 Prozent jeweils aus dem Bundestag ausgeschieden.
 
Kurzum: Ich habe das West-Ost-Gequatsche satt. Miteinander können wir Manches bewirken. Gegeneinander versinken wir im Sekten-Nirwana.
 
Die zweite Anmerkung:
Auch wenn ihr das Rostocker Direktmandat knapp verfehlt habt, mein Respekt gilt dennoch Steffen Bockhahn und seinem Team.
Damit genug zu den Wahlen. Ich komme zu drei anderen Themen.
Sie haben nur scheinbar nichts miteinander zu tun.

1. 

Parlamentsblockade
 
CDU/CSU und SPD verhandeln über eine große Koalition. Es wird eine übergroße Koalition.
Das ist legitim, aber schlecht für die Demokratie.
Und genau so sind die potentiellen Regierungsparteien auch gestartet.
Erst gönnten sie sich zwei Vizepräsidenten mehr.
Dann setzten sie Sitzungen des Bundestages ab.
Schließlich führten sie ein Stück aus dem Tollhaus auf.
 
Montag gab es eine Plenardebatte zum NSA-Skandal. Zum Thema selbst komme ich abschließend. Wir, DIE LINKE, wollten jedenfalls keinen folgenlosen Plausch und hatten daher einen konkreten Entschließungsantrag. Auch die Grünen hatten einen. Wir forderten Sofortabstimmung. Das wiederum wollten CDU/CSU und SPD partout nicht. Sie überwiesen die Anträge in den Hauptausschuss.
 
Hauptausschuss klingt ganz wichtig. Aber es gibt gar keinen Hauptausschuss. Es gibt im Bundestag bislang überhaupt keine Ausschüsse, nicht einmal die, die im Grundgesetz vorgesehen sind.
Eine virtuelle Koalition betreibt also weiter Arbeitsverweigerung.
Sie verwechselt die Demokratie mit einer Show von Cindy aus Marzahn.
Dagegen bin ich als Marzahnerin, kulturell und prinzipiell!
Politisch ist das übrigens purer Wahlbetrug! Denn Wählerinnen und Wähler haben Parlamentarier gewählt und keine Drückeberger.
 
DIE LINKE wird das jedenfalls nicht unwidersprochen hinnehmen.
Und ich bitte euch, erzählt das weiter, wo ihr nur könnt.
Auch Halina Wawzyniak ist übrigens der Meinung, dass dieser von der CDU/CSU und SPD ausgedachte Hauptausschuss verfassungswidrig ist.
Sie beruft sich auf das „Wüppesahl-Urteil“. Darin geht es um die Rechte von Abgeordneten. Ihr könnt das auf ihrer Webseite nachlesen. Demnach hat niemand, auch keine noch so große Mehrheit, das Recht, Parlamentarier von der Arbeit abzuhalten oder von ihr auszuschließen.
 
Es kann also durchaus sein, dass eine Regierungskoalition, die noch gar keine ist, sich in „Karlsruhe“ auf der Anklagebank wiederfindet. Das wäre ein Novum. Aber ich finde: ein extrem provoziertes. Denn es ist höchste Zeit, Demokratie wieder ernst zu nehmen. Nicht in Sonntagsreden, sondern im Alltag.

2. 

zu den Koalitions-Verhandlungen
 
Zum kommenden Koa-Vertrag kann man natürlich seriös erst etwas sagen, wenn er vorliegt. Allerdings lässt das bislang Bekannte tief blicken. Worüber wird öffentlich besonders gestritten? über die Maut, über einen Mindestlohn, über eine Frauen-Quote. Ich sage nicht, dass dies belanglos sei. Aber Klaus Stuttmann hat es dieser Tage auf den Punkt gebracht. Seine Karikatur zeigt Merkel, Gabriel und Seehofer. Erschöpft und stolz verkünden sie das Ergebnis: „Endlich Klarheit!!“ Zitat: „Wir einigten uns auf eine kostenneutrale Frauenquote bei einer Mindestmaut von 8,50 Euro für Ausländer mit doppelter Staatsbürgerschaft.“
 
Ich prophezeie: Das wird eine gefährliche Kleinklein-Regierung. Nicht eines der großen Probleme wird angegangen, geschweige denn gelöst:
• Die klaffende Schere zwischen Arm und Reich,
• das anhaltende Steuer-Unrecht zugunsten von Milliardären,
• die ungebrochene Allmacht von Finanzmärkten;
• die ungelöste, sich verschärfende EU-Krise,
• der verschleppte sozial-ökologische Umbau der Gesellschaft
• und eine dramatische Krise der Demokratie,
das sind die wirklich großen Themen.
Und weil das so ist, bleibt DIE LINKE unverzichtbar wichtig: vor Ort, in Deutschland, in der Europäischen Union!

3. 

zum NSU-Desaster
 
Ich war Mitglied im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum NSU-Nazi-Mord-Desaster.
Wir schauten gemeinsam in Abgründe. Zur Erinnerung: Ein Nazi-Trio zog zehn Jahre lang mordend und raubend durch Deutschland - unerkannt und unbehelligt. Das ist die offizielle Version. Man muss viele Fragen verdrängen, um ihr zu folgen. Kein einziger Tatort ist bisher überzeugend aufgeklärt.
 
Auch der in Rostock nicht. Umso mehr hoffe ich, dass es in der Hanse-Stadt endlich die vereinbarte Erinnerung am Tatort gibt. Denn wer die NSU-Morde verdrängt und wer nicht endlich über Rassismus redet, begünstigt indirekt die nächste NSU-Bande. Deshalb muss DIE LINKE dran bleiben!
 
Das NSU-Versagen war umfassend, es reicht vom Rechtsstaat bis zu den Medien. Die Opfer wurden verhöhnt. Dazu eine Geschichte: Ich war an vielen NSU-Tatorten. Ich wollte mir ein Bild machen und nicht nur Akten lesen. So auch in Köln in der Keupstraße. Dort gab es 2006 einen mörderischen Bombenanschlag mit lebensbedrohlich Verletzten, alle mit türkischen Wurzeln. Ein Sprecher der Keupstraße begleitete mich dort und öffnete mir Türen. So konnte ich mit Betroffenen des Anschlages sprechen.
 
Auch mit dem Inhaber des Friseurgeschäftes, vor dem die Bombe gezündet wurde. Es war ein beschämendes Gespräch. Noch im Herbst 2011, also fünf Jahre danach, wurde er von der Polizei vorgeladen, er möge endlich gestehen, was er mit alledem zu tun habe.
Er sagte mir: „Frau Pau, ich weiß, auch die Polizei kann irren. Aber sie hat vergessen, dass wir Menschen sind. Das kann ich nicht verwinden.“
 
Danach lud mich mein Begleiter noch auf ein Glas Tee ein. Wir überlegten, was wir für die Opfer tun könnten. Dann brach es auch aus ihm heraus, leise, aber umso eindringlicher. Er fragte mich:
„Ich lebe seit 40 Jahren hier. Ich bin Deutscher. Meine Kinder sind Deutsche. Meine Enkel ebenfalls. Wo sollen wir denn hin?“
Ich konnte ihm nur die Hand drücken.
 
Dieses Erlebnis habe ich im Bundestag erzählt und nun auch euch, weil es viel, sehr viel über die aktuellen deutschen Zustände erzählt.
Fakt ist: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu. Das hat politische Ursachen. Dagegen muss DIE LINKE solidarisch sein.
Wissenschaftler um Prof. Heitmeyer benennen zwei Grundübel: Das Soziale wird ökonomisiert und die Demokratie wird entleert.
Gegen beides muss DIE LINKE politisch mit Alternativen agieren.
 
Zum NSU-Kapitel nur noch ein Hinweis. Im Zentrum des staatlichen Versagens agierten die Ämter für Verfassungsschutz - alle. Deshalb bleibe ich dabei: Sie sind weder kontrollierbar, noch reformierbar. Sie sind als Geheimdienste aufzulösen.

4. 

zum NSA-Skandal
 
Ich komme auf den NSA-Skandal zurück. Das Agieren der Bundesregierung ist übersichtlich:
• Sie tut so, als wären US-Geheimdienste aus dem Ruder gelaufen. Kanzlerin Merkel: „Das tut man nicht unter Freunden.“
• Sie versucht den Skandal klein zu reden. Kanzleramtschef Pofalla: „Das Problem ist gelöst.“
• Sie betont die deutsch-amerikanische Wertegemeinschaft.
Innenminister Friedrich: „Anti-Amerikanismus geht mir auf den Senkel.“
Das war im Sommer. Inzwischen klingt es etwas anders. Aber die Stoßrichtung bleibt dieselbe.
 
Gregor Gysi hat zur Wertegemeinschaft linken Dissens angemerkt.
Er hat an den Vietnam-Krieg erinnert, an den Putsch gegen Allende und aktuell an das völkerrechtswidrige US-Lager auf Guantanamo.
Ich wiederhole: Mit diesen „Werten“ haben wir nichts gemein!
Anhand des NSA-Skandals will ich das noch deutlicher machen.
Fakt ist: Die Kommunikation von Bürgerinnen und Bürgern - auch in Deutschland - wird millionenfach überwacht und ausgespäht.
Dabei ist es aus bürgerrechtlicher Sicht Wurscht, ob es sich um das Handy von Frau Merkel oder um die E-Mails von Frau Müller handelt.
Beides ist nicht hinnehmbar.
 
• Erstens ist das ein massiver Verstoß gegen Artikel 10 Grundgesetz, dem verbrieften Recht auf das Post- und Fernmeldegeheimnis.
• Zweitens ist das ein Einbruch in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und daraus abgeleitet den Datenschutz.
 
Zu diesem Punkt eine Anmerkung mehr: 1983 verkündete das Bundesverfassungsgericht ein weitreichendes Urteil. Es ging als „Volkszählungsurteil“ in die bundesdeutsche Rechtsprechung ein. Sinngemäß befanden die obersten Richter: Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder nicht mehr wissen können, wer was über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Wer als Mensch nicht mehr souverän ist, kann als Bürger kein Souverän sein. Eine Demokratie ohne politische Souveräne aber ist undenkbar.
 
• Wir haben es also Drittens mit einem Angriff auf die Demokratie zu tun.
Aber auch das ist noch nicht alles. Da offenbar jede und jeder ausgespäht wird, werden es auch Anwälte, Journalisten, Ärzte und Geistliche. Alle vier Berufe sind aus guten demokratischen Gründen privilegiert: Anwälte zugunsten ihrer Mandanten, Journalisten zugunsten ihrer Informanten, Ärzte zugunsten ihrer Patienten, Geistliche zugunsten der Beichte.
 
• Also Punkt Vier: Es geht um Angriffe auf den Rechtsstaat, gegen die Pressefreiheit, auf Persönlichkeitsrechte und wider die christliche Kultur.
• Zudem Punkt Fünf: Unwidersprochen ist, dass US-Geheimdienste von deutschem Boden aus Kriege vorbereiten und völkerrechtswidrig führen.
Sie nehmen wie selbstverständlich Deutschland in Geiselhaft. Und Haft ist bekanntlich das Gegenteil von Freiheit.
Und deshalb frage ich: Über welche Wertegemeinschaft reden wir,
• wenn Bürger- und Persönlichkeitsrechte,
• wenn der Rechtsstaat und die Pressefreiheit,
• wenn die Demokratie, die Selbstbestimmung und die Freiheit durch Geheimdienste systematisch unterlaufen und ausgehöhlt werden?
 
Die alte und offenbar auch die kommende Bundesregierung buchen das alles noch immer unter „dumm gelaufen“ ab. Ich sage: Das ist vorsätzlicher Meineid wider das Grundgesetz. Und da haben wir über die Rolle deutscher Geheimdienste noch gar nicht geredet. Ein weiteres Thema, das die Bundesregierung tunlichst meidet.
 
Und zugleich zeigt sich die bundesdeutsche Doppelmoral:
Bürgerrechtler in der DDR wurden gelobt und unterstützt.
Bürgerrechtler aus den USA werden geblockt und ignoriert.
Ich finde: Die Haltung zu Edward Snowden ist ein aktueller Lackmus-Test für die Haltung zu Bürgerrechten und Demokratie.
Und daher mein Abschlusssatz. Die Position der LINKEN ist klar:
Ja zu Bürgerrechten! Ja zur Demokratie! Ja zu Edward Snowden!
 

 

 

24.11.2013
www.petra-pau.de

 

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