Soziale und individuelle Freiheitsrechte gleichermaßen verteidigen

Impulsbeitrag von Petra Pau auf dem „New European - Left Forum XXXI.“
Berlin, 27. Januar 2007

0. 

 
Eigentlich wollte ich zu dieser Zeit in der Gedenkstätte des einstigen KZ Sachsenhausen bei Oranienburg sein. Der 27. Januar gilt in der Bundesrepublik seit einigen Jahren als offizieller Gedenktag an den Holocaust. Trotzdem bin ich dieser Einladung gefolgt. Das war keine Entscheidung gegen Sachsenhausen, sondern eine für das Thema hier.

1. 

Ein Widerspruch
Es geht um das Verhältnis von sozialen, Bürger- und Menschenrechten. Ich habe mich für diese Debatte entschieden, weil es auch in der neuen Linken in Deutschland als strittig gilt. So wird es jedenfalls in den programmatischen Eckpunkten für eine neue Linkspartei ausgewiesen. Ich halte das übrigens für eine der zentralen und strategischen Streitfragen.
In den Eckpunkten für eine NEUE LINKE heißt es: „Gleichheit ohne individuelle Freiheit endet in Entmündigung und Fremdbestimmung. Freiheit ohne Gleichheit ist nur die Freiheit für die Reichen.“ Dem Satz kann ich zustimmen. Wobei „Gleichheit“ in dieser Verkürzung auch synonym für soziale und „Freiheit“ für individuelle Rechte steht.
Aber am Ende des Dokumentes heißt es: „Wie stehen Linke in der Menschenrechtsfrage zum Verhältnis von sozialen und individuellen Bürgerrechten?“ Diese Frage gilt zwischen der WASG und der Linkspartei.PDS als ungeklärt. Sie steht im Widerspruch zum Haupttext. Und sie tangiert ja wohl auch das Thema dieses Podiums.

2. 

real-existierende Erfahrungen
Nun habe ich Erfahrungen aus zwei gesellschaftlichen Systemen. Ich bin gelernte DDR-Bürgerin, also im real-existierenden Sozialismus groß geworden. Und ich bin seit 16 Jahren BRD-Bürgerin, agiere also im real-existierenden Kapitalismus. Im Verhältnis von sozialen und individuellen Freiheitsrechten kenne ich daher auch zwei unterschiedliche Konzepte.
Im real-existierenden Sozialismus wurden die sozialen Rechte favorisiert und - so weit die ökonomischen Kräfte reichten - auch realisiert. Ich führe dafür als Beispiel drei Indikatoren an: Es gab weder Arbeitslosigkeit, noch existenzielle Armut als gesellschaftliches Problem. Hinzu kam eine flächendeckende, und zwar kostenlose, pädagogische Kinderbetreuung.
Wesentliche Bürger- und individuelle Freiheitsrechte wurden hingegen zurück- oder ausgesetzt. Das betraf die Pressefreiheit, die Reisefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit und andere mehr. Zwar waren alle irgendwie in der Verfassung verbrieft. Aber darüber standen letztlich fast immer die führende Rolle der Partei und die staatliche Praxis.
Im real-existierenden Kapitalismus werden beide Rechte proklamiert, die sozialen und die individuellen Freiheitsrechte. Und sie werden realisiert, so lange die politischen Kräfte reichen. De facto aber werden die sozialen Grundrechte als erstes fallen gelassen: Massen-Arbeitslosigkeit, Massen-Armut und Perspektivlosigkeit der Jugend sind dafür fatale Indikatoren.
Aber auch die individuellen Freiheitsrechte - das Aushängeschild des Kapitalismus und seiner „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ - stürzen zunehmend hinten runter. Dabei spreche ich über ein Kernland des Kapitalismus, die Bundesrepublik Deutschland, und nicht über die Hinterhöfe des Kapitals in Afrika, Asien, Südamerika oder Osteuropa.

3. 

Drei Abbau-Linien
Betrachte ich die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, dann gibt es drei große Linien, über die individuelle Freiheitsrechte abgebaut werden. Die eine beruft sich auf den Sozialstaat, die zweite auf die Terrorgefahr und die dritte hat etwas mit dem technischen Fortschritt zu tun, auf den die Politik bislang keine demokratischen Antworten hat.
Beispiel 1- Sozialstaat: Er muss gerettet werden, er ist nicht mehr finanzierbar und er muss vor Missbrauch geschützt werden. Das sind die neoliberalen Dauer-Botschaften. Sie führen zum permanenten Misstrauen gegenüber Arbeitslosen und letztlich zu deren Dauer-Überwachung. Synonym dafür stehen in Deutschland die so genannten „Hartz“-Gesetze.
Wer langzeitarbeitslos ist, muss sich nackt machen. Er muss seine Ersparnisse abräumen. Er muss bis zu 150 persönliche Daten über sich und seine Umgebung preisgeben. Er muss sich zudem überwachen lassen. Freiheitsentzug oder Sozialentzug, das ist die absurde Alternative. Wer arm dran ist, verliert auch seine freiheitlichen Bürgerrechte.
Beispiel 2 - Antiterror-Kampf: Rechtlich gedeckt, aber auch gegen das Recht, werden der Schutz der Privat-Sphäre, die Presse-Freiheit, das Post- und Telekommunikations-Geheimnis sowie das absolute Folterverbot in Frage gestellt, rhetorisch relativiert und praktisch verletzt. Wobei die real-kapitalistischen Argumente dafür den real-sozialistischen sehr gleichen.
Der innere und äußere Feind war immer da und immer Anlass, individuelle Bürgerrechte anzugreifen und auszusetzen. In dieser Frage unterscheidet sich der real-existierende Kapitalismus kaum vom real-existierenden Sozialismus. Der kalte Krieg war damals ein betontes Argument. Heute ist es der Terrorismus. Die Folgen ähneln sich.
Ich lasse hier bewusst aus, was ich für die Ursachen und für die Auslöser des Kalten Krieges halte. Und ich blende auch bewusst aus, was den Terrorismus begünstigt. Aber ich bleibe bei meiner These: Der Kampf gegen den Terrorismus lässt sich gewinnen, ein Krieg gegen den Terrorismus nicht. Das ist jetzt aber nicht mein Haupt-Thema.
Beispiel 3 - technischer Fortschritt: Es gibt inzwischen Entwicklungen, die gleichsam potentielle Gefahren für individuelle Freiheits- und Bürgerrechte bergen. Ich sage das nicht als Kassandra, denn ich nutze selber das Internet und mein Handy. Ein Navigator hilft mir beim Autofahren und meine Post besteht vor allem aus e-mails.
Aber: Noch nie gab es ein derart umfängliches Überwachungs-Potenzial, wie heute. Allein mit dem Handy trägt inzwischen fast jeder seine elektronische Fußfessel und seine aktivierbare Abhörwanze mit sich herum. Und je nutzerfreundlicher die neue Technik wird, desto naiver wird es angenommen. Das ist eine Gefahr für individuelle Freiheitsrechte.

4. 

Demokratie in Gefahr
Mehr noch: Es ist eine Gefahr für die Demokratie. In den 80er Jahren hat das deutsche Bundesverfassungsgericht ein Urteil gefasst. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird es „Volkszählungs-Urteil“ genannt. Geklagt hatten Bürgerinnen und Bürger, die nicht wollten, dass der Staat mehr über sie erfährt, als unbedingt nötig. Sie bekamen Recht, der Datenschutz gewann.
Sinngemäß besagt das Urteil: Bürger, die nicht mehr wissen und nicht mehr wissen können, was andere über sie wissen, sind nicht mehr souverän. Wer nicht mehr souverän ist, kann auch kein Souverän sein. Eine Demokratie ohne Souverän aber ist undenkbar. Der Schutz persönlicher Daten ist daher eine Voraussetzung für jede Demokratie.
Und damit bin ich wieder bei der Ausgangsfrage. Dass die soziale Frage, dass soziale Rechte, dass Gleichheitsfragen Grundfragen aller Linken sind, von Jesus bis zur neuen Linken, all das ist für mich unstrittig. Aber meine These bleibt: Eine moderne Linke muss immer auch eine Bürgerrechtspartei sein, die für individuelle Freiheitsrechte kämpft.
Ich sage das nicht nur mit Blick auf meine Partei und die neue LINKE in Deutschland. Sondern auch mit Blick auf Europa. Wir haben ein Sozial-Defizit. Wir haben ein Demokratie-Defizit. Und wir erleben eine Erosion der Bürger-, Menschen- und Freiheitsrechte. Das spüren die Menschen. Ein Schlagwort beschreibt das mit „Demokratie-Verdrossenheit“.
Das wiederum ist nicht nur eine Frage, ob Wähler noch wählen. Demokratie-Verdrossenheit ist kein Schnupfen. Demokratie-Verdruss wirkt wie AIDS. Das gesellschaftliche Immunsystem wird geschwächt und genau das ist ein Einfallstor für Rechtsextremisten mit strammen Parolen und vergifteten Scheinlösungen, auch für soziale Fragen.
Nun kenne ich auch aus dem Umfeld meiner Partei Empfehlungen. Sie besagen, die LINKE müsse der Rechten den Schneid abkaufen, indem sie die soziale Frage noch pointierter und radikaler stellt. Alles andere seien Randthemen und die wiederum würden vom sozialen Problem nur ablenken. Ich halte das für grundfalsch und für kreuzgefährlich.

5. 

Demokratischer Sozialismus
Meine These ist: Man darf soziale Rechte und individuelle Freiheitsrechte nicht gegeneinander stellen. Man darf sie nicht hierarchisieren und man darf sie auch nicht miteinander verrechnen. Wer es dennoch versucht - allemal bewusst - verletzt universelle Menschenrechte. Die LINKE sollte es deswegen nicht tun.
Wenn ich stattdessen sage, soziale Rechte und individuelle Freiheitsrechte gehören gleichberechtigt und untrennbar zusammen, dann weiß ich wohl: Ich rede über Utopia. Denn praktisch hat das noch keine Gesellschaft vermocht. Aber den Anspruch gab es schon vielfach, zum Beispiel während der Französischen Revolution 1789.
„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ sind noch immer eine unerfüllte Vision. Umso mehr stehe ich dazu: „Gleichheit ohne individuelle Freiheit endet in Entmündigung und Fremdbestimmung. Freiheit ohne Gleichheit ist nur die Freiheit für die Reichen.“ Ich will beides, soziale und Freiheitsrechte. Und ich nenne genau das „Demokratischen Sozialismus“.
 

 

 

27.1.2007
www.petra-pau.de

 

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