Wir müssen uns eigene Gedanken machen. Immer wieder neu.

Gedenken an die „Kindertransporte“ am 31. August 2012, Berlin, Bahnhof Friedrichstraße
Rede von Petra Pau

1. Diese Skulptur am Bahnhof Friedrichstraße erinnert an die Kindertransporte 1938/39 nach England, die viele jüdische Kinder vor dem Holocaust retteten.

Inzwischen hochbetagte „Kinder“, wie sie sich immer noch nennen,
waren aus vielen Ländern zur Einweihung 2008 nach Berlin gekommen.
Ich hatte sie tags darauf offiziell im Bundestag empfangen.

Weitere Mahnmale gibt es in Gdansk, London, Rotterdam und Wien.
So werden Geschichte und Geschichten vor dem Vergessen bewahrt.
Das ist wichtig und das tut Not.
 

2. Die eigentliche Frage hinter den Kindertransporten, noch mehr hinter dem Völkermord an Jüdinnen und Juden bleibt allerdings:
Wie konnte das überhaupt geschehen?

Also vergessen wir nicht die Mahnung von Holocaust-Überlebenden:
Das vormals Undenkbare, einmal geschehen, kann wieder passieren.
Nein, nicht passieren, sondern getan werden!

Die Nachgeborenen trifft keine Schuld an der Vergangenheit.
Aber wir tragen Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft.
Diese Mahnung ist der tiefere Sinn jedes guten Denk -mal.
 

3. Im Bundestag bin ich Mitglied in dem Ausschuss, der aktuell die NSU-Nazi-Mordserie untersucht. Ein Trio raubte und mordete jahrelang quer durch die Bundesrepublik Deutschland.

Ihr Motiv war fremdenfeindlich, germanisch-rassistisch. Sie wurden dabei weder erkannt, noch behelligt. So lautet jedenfalls die offizielle Version. Zweifel sind angebracht.

Denn bei unseren Untersuchungen blicke ich in Abgründe.
Auch und gerade, was das Agieren der Sicherheitsbehörden betrifft.
Das Wort „Versagen“ verharmlost.
 

4. Häufig höre ich seither hie und da: „Was wunderst du dich? Das haben wir immer gesagt. Die deutschen Behörden sind auf dem rechten Auge blind.“
Ja, dafür spricht manches.

Aber auch das ist mir wieder zu einfach.
Es waren Anwärterinnen und Anwärter der Berliner Polizei, die dieses Mahnmal hier engagiert begleitet haben.

Sie pflegten Patenschaften mit noch lebenden „Kindern“. Sie wollten deren persönliche Geschichte bewahren: für sich, für die Erinnerung, für unsere Zukunft. Das Beispiel sollte Schule machen.
 

5. Aber es gibt auch andere Signale. Deshalb sage ich: Bürgerrechte, Sicherheit und Antifaschismus sind keine Gegensätze, wie manchmal dumm-forsch behauptet wird. Sie gehören zusammen, in der Politik und in Behörden.

Noch mehr Sorgen macht mir allerdings unsere Gesellschaft. Es gibt keinen „Aufstand der Anständigen“ seit die NSU-Nazi-Mordserie bekannt wurde.

Es gibt auch keine politische General-Inventur zum Thema Rassismus in Deutschland: nicht in der Politik, nicht in der Gesellschaft, kaum in den Medien.
 

6. Zugleich wird neuer Hass geschürt: aktuell gegen Muslime, gegen Griechen, gegen angeblich Faule und vermeintlich Unnütze. Es sarraziniert.

Wohin das führen kann, auch daran erinnert diese Skulptur von Frank Meisler über die jüdischen Kindertransporte von 1938/39.

Die einen entkamen in die Fremde, die anderen kamen in Vernichtungslager. Ausgestoßen wurden sie alle: von einer anfangs gleichgültigen,
letztlich unmenschlichen Gesellschaft.
 

7. Die aggressive, militante rechte Szene fühlt sich aktuell übrigens ermutigt.
Büros und Wohnungen von Abgeordneten werden attackiert,
in Berlin und bundesweit.

Unverhohlen werden Moscheen und Muslime bedroht.
Und Jüdinnen und Juden, wie diese Woche Rabbiner Daniel A. und seine 6-jährige Tochter in Berlin-Friedenau.

Mir wird das viel zu oft als Problem von Muslimen, Juden oder anderen Minderheiten abgehakt. Genau das ist es nicht.
Es sind deutsche, gesellschaftliche, also unser aller Skandale.
 

8. Und lassen sie mich auch das noch sagen, diesmal als LINKE:
Es gibt keinen akzeptierten Entwurf, wie wir morgen miteinander leben wollen - sozial, solidarisch, demokratisch.

Fakt ist: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer zahlreicher.
Die Solidarität schwindet, der Sozialstaat ebenso und alltägliche Gewalt gewinnt allgemeine Akzeptanz.

Zum Befund kommt: Die Finanz-Welt dominiert die „Rest“-Welt.
Und schon feiern Klischees über raffende Jüdinnen und Juden wieder traurige Urständ. Es ist fürwahr Gefahr in Verzug.
 

9. Daran kann eine Skulptur, wie diese, nichts ändern. Aber sie kann erinnern helfen. Nicht fremde Schuld an-nehmen, sondern eigene Verantwortung wahr-nehmen, empfahl ich eingangs.

„Europa spricht wieder Deutsch“ oder ähnlich neue Großmacht-Sprüche gehören bestimmt nicht dazu. Im Gegenteil:
Das sind Streu-Minen wider die Vernunft, die Kultur und Europa.

Noch können uns erfahrene „Kinder“ mahnen. Wir sollten sie - so lange es geht - hören und hören wollen. Aber wir müssen uns eigene Gedanken machen und jedweder Menschenverachtung solidarisch widersprechen. Immer wieder neu.
 

 

 

31.8.2012
www.petra-pau.de

 

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