Deutsche Zustände 2016

„Refugees welcome - Teilhabe und Integration gestalten“
Fachkonferenz Landtagsfraktion DIE LINKE. Sachsen-Anhalt
Magdeburg, 11. Februar 2016
Rede von Petra Pau

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1. Ich danke für die Einladung und das ist keine Floskel. Wir brauchen mehr denn je Debatten in breiten Bündnissen für Demokratie und Toleranz, also einen wirklichen Verfassungsschutz, allemal für Artikel 1 Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar, aller Menschen, nicht nur der schönen und reichen und schon gar nicht nur der deutschen und weißen.

Und deshalb will ich gleich mit Irritationen aufräumen, die jüngst auch aus meiner Partei kamen. Menschenrechte kennen weder „Obergrenzen“, noch ein „Gastrecht“, das verwirkt werden könnte. Menschenrechte sind unteilbar. Das ist mein Grundsatz und das die Position der Partei und Fraktion DIE LINKE. Alles andere ist abwegig und gefährlich.

2. Nun haben wir seit Monaten eine anhaltende Debatte über Flüchtende und Asylpolitik. Jüngst - ich sage hier nicht den Anlass und nicht die Teilnehmer - wurde Angela Merkel besorgt gefragt, ob sie darob gestresst sei. „Oh“;, sagte sie, „sehe ich so aus?“ Und dann meinte sie: „Wir erleben jetzt unser Rendezvous mit der Globalisierung.“ Ich finde: Damit hat sie Recht!

Dabei übersehe ich nicht: Alle aktuellen Angriffe auf das Asylrecht geschahen und geschehen mit ihrer Zustimmung. Niemand sollte aus ihr eine Heilige machen. Und doch sehe ich einen Unterschied. Merkel versucht immerhin Menschen in Not, die nach Deutschland kommen, als Christin zu sehen. Seehofer & Konsorten wollen ihnen die Waffen zeigen.

3. Ich will hier gar nicht weiter in der Partei-Politik herumrühren. Mir geht es um gesellschaftliche Entwicklungen. Die sind a) ambivalent und
b) gefährlich. Ambivalent, weil sie die Gesellschaft auseinander, auch gegeneinander treiben. Gefährlich, weil wir in Europa, in der EU und in Deutschland einen nationalistisch-rassistischen Rechtstrend erleben.

Die Flüchtlingsfrage ist dabei nur eine von vielen. Aber sie wird als Brandbeschleuniger missbraucht. Dagegen steht eine Zahl, die ermutigt. Neun Millionen Bürgerinnen und Bürger engagieren sich laut Hochrechnungen hierzulande vielfältig und konkret für Geflüchtete. Ich glaube: Das ist die größte Sozial- und Demokratie-Bewegung der letzten Jahrzehnte. Danke!

4. Die hohe Zahl der Flüchtlinge, insbesondere aus dem arabischen Raum, werde die Gesellschaft verändern, hört man allenthalben. Ich will das gar nicht bestreiten. Darüber muss man in der Tat diskutieren, darüber, was dies heißen könnte, und darüber, wie man damit umgehen sollte?
Nur muss man darüber auch diskutieren wollen, sachlich zudem.

Fakt ist allerdings: Die Gesellschaft hat sich bereits verändert. Aber nicht durch Flüchtlinge, sondern durch deutsche Bürgerinnen und Bürger, durch deutsche Medien und durch deutsche Politikerinnen und Politiker. Offenbar bricht etwas aus, was nur auf einen Anlass gewartet hatte: Nationalismus und Rassismus. Beide Übel haben demnach andere, nämlich deutsch-europäische Ursachen.

5. Prof. Heitmeyer (Uni Bielefeldt) und sein Wissenschaftsteam hatten 2011 das Fazit ihrer zehnjährigen Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“ vorgestellt. Es war Zufall, dass dies geschah, unmittelbar, nachdem das NSU-Nazi-Mord-Trio aufgeflogen war. Auf den ersten Blick schienen beide auch gar nichts miteinander zu tun zu haben. Aber nur aus einem oberflächlichen Blick.

Das alarmierende Fazit der Studie lautete: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu, ebenso die allgemeine Akzeptanz von Gewalt als Politikersatz. Wobei gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auch Arbeits- und Obdachlose, Menschen mit Behinderungen, Schwule u. a. Gruppen meint. Gleichwohl: Die Prognose scheint nunmehr in die Praxis umzuschlagen.

6. Als Ursachen für diese gefährlichen Tendenzen benannten Heitmeyer & Co.: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie wird entleert. Andere Wissenschaftler kommen in einer Studie für die SPD-nahe „Friedrich-Ebert-Stiftung“ zu ähnlichen Schlüssen. Der Neoliberalismus türme Gefahren. Die gesellschaftliche Mitte breche weg. Ein Politikwechsel sei überfällig.

Nur: Über all das spricht aktuell fast niemand, nicht in Nachrichten, kaum in Magazinen, fast nie in Talkshows. Diese - auffälligen - Leerstellen begünstigen letztlich PEGIDA und die AfD. Denn befördert wird unsachliches Gerede über leidliche oder feindliche Flüchtlinge. Dabei geht es im Kern zunehmender Konflikte weniger um Flüchtende, sondern vielmehr um „Deutsche Zustände“.

7. In der Heitmeyer-Studie von 2011 ist von einer „explosiven Situation als Dauerzustand“ die Rede. Jürgen Roth beschreibt diese anhand zahlreicher Beispiele in seinem neuem Buch „Der tiefe Staat“, erschienen bei HEYNE. Nach Wahrnehmung des Autors unterstützen große Teile der Politik und der Sicherheitsbehörden diesen bedrohlichen Rechts-Trend.

Andere Kommentatoren vergleichen aktuelle Entwicklungen mit den Pogromen 1992/93, ja, selbst mit Einstellungen, die am Ende der „Weimarer Republik“ in den 1930er Jahre zum Faschismus führten. Und sie belegen das mit Zahlen zu rassistischen und rechtsextremen Anschlägen. Diese stiegen seit Mitte 2015 rasant an, übrigens bundesweit, nicht nur im Osten.

Ein Trend, der sich fortsetzt. Allein im Januar 2016 wurden

•   99 Angriffe auf Unterkünfte von Flüchtlingen registriert,
     das sind mehr als drei pro Tag.
•   Hinzu kamen 26 tätliche Übergriffe auf Flüchtlinge sowie deren
     Helferinnen und Helfer, zunehmend mit erheblichen Körperverletzungen.

Diese Zahlen sind Regierungsangaben. Sie stapeln tief.

8. Zu alledem drei vorläufige Schlussgedanken:

Erstens: Es spricht viel dafür, dass Heitmeyer und andere Wissenschaftler Recht haben. Es gibt einen Nährboden, auf dem Hass und Gewalt inmitten der Gesellschaft gedeihen, nicht nur am rechtsextremen Rand. Aber das entlastet keinen Täter und keine Täterin, nicht juristisch, nicht moralisch.

Zweitens: Viele fühlen sich sozial verunsichert und politisch entmündigt.
Das schürt Proteste und diese haben durchaus nachvollziehbare Ursachen.
Wer aber glaubt, die AfD sei eine Alternative zu diesen deutschen Zuständen, der irrt gewaltig. Die AfD ist aktuell die neoliberalste aller Parteien.

Das zeigt ein Blick in die AfD-Programmatik, sofern sie vorliegt. Kurz gefasst:

•   Mindestlohn?                 Dagegen!
•   Erbschaftssteuer?         Abschaffen!
•   Steuern für Reiche?      Runter!
•   Atomkraftwerke?           Lassen!
•   Klimawandel?                Panikmache!

Drittens: Ja, wir brauchen einen Aufstand der Anständigen. Aber endlich auch ein Minimum an Anstand der Zuständigen - nicht nur gegenüber Flüchtlingen. Und ohne einen generellen Politikwechsel kommen wir aus der Spirale des Gegeneinanders - hierzulande und global - nicht heraus.

Deshalb noch mal zur Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ihre Empfehlung lautet: "Mehr Politik wagen!" Dazu gehören ein auskömmlicher Mindestlohn, eine Umverteilung von Wohlstand und eine Neubewertung von Arbeit. Sie regen Neues an, so auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Schließlich mahnen sie: „Mehr Europa, aber anders, nämlich sozial und demokratisch.“

Über all das würde ich gern mit ihnen diskutieren.

Danke!

 
 

 

 

11.2.2016
www.petra-pau.de

 

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